Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 566

Wie Tolstoi lebtund arbeitet Ein deutscher Buddhist (Ephron, HeinrichArjuna, Harald van Jostenoode)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 566

Text

ARJUNA: EIN DEUTSCHER BUDDHIST.

deswegen zur Braut? Und da wollen
wir, dass das Weib unser Freund werde!
Das ist — Lüge! Einen Freund nehme
ich mir unter den Männern, und kein
einziges Weib kann mir den Freund
ersetzen. Warum lügen wir also unseren
Frauen vor und versichern ihnen, dass
wir sie für unsere Freunde halten? Das
ist ja alles — Lüge! «

»Was sollen wir also thun? Wie
können wir den Frieden in die Familie
bringen?« fragte einer der Anwesenden.
»Der Mann muss die ganze Last der
von ihm geschaffenen falschen Lage auf
sich nehmen, er muss von seiner Frau
nicht zu viel fordern und zur Einsicht
fähig sein«, erwiderte Tolstoi mit Über-
zeugung. »In keinem Falle, in keiner
Lebenslage darf der Mann seinem Weibe
seinen Schutz versagen; denn für uns
Männer ist die Ehe grösstentheils eine
Erhebung. Indem wir uns ein bestimmtes
Weib zur Frau wählen, machen wir alle
übrigen Weiber der Welt zu unseren
Schwestern
. Und darin liegt der
tiefe Sinn der Ehe
. Doch wer jung-
fräulich bleiben kann, ohne seiner Natur

Gewalt anzuthun, — was für ein hohes
Glück muss das sein!«

Und dabei erzählte Tolstoi, dass er
ein Ehepaar kannte, das in vollster
Jungfräulichkeit miteinander lebte. Ganz
entzückt darüber, schrieb Tolstoi diesem
Ehepaare einen Brief, in welchem er die
Frau besonders pries. Doch sie antwortete
ganz aufrichtig dem Dichter, dass sie
sich sehne, »nicht nur die Freundin ihres
Mannes, sondern auch seine Frau zu sein
und mit ihm Kinder zu haben; ihr Mann
aber wünsche, dass ihr Verhältnis rein bleibe,
und sie füge sich dem Wunsche ihres
Mannes«.

Diese Worte sprach Tolstoi in be-
wegtem Tone und begann schliesslich zu
weinen. Als er sich beruhigt hatte, sagte
er dann:

»Wer von uns könnte diesem Paare
einen Vorwurf machen, wenn die Beiden
schliesslich wie Mann und Frau leben
wollten? Aber schon allein dieses ehrliche
Geständnis aus dem Munde einer ein-
fachen Frau und ihre ruhige Ergebenheit
in den Willen ihres Mannes — ist dies
nicht die höchste Schönheit?!«

EIN DEUTSCHER BUDDHIST.
Von HARALD ARJUNA VAN JOSTENOODE (Lüttich).

Ein heftiger Kampf ist entbrannt
zwischen den Anhängern des historischen
Christenthums und den Schülern der
indischen Weisheit. Die ersteren wollen
den anderen keine Zugeständnisse machen,
letztere wenden sich oft in brüsker Weise
von den officiellen Glaubenslehren ab und
überschütten die Orthodoxen mit Spott
und Hohn. Einer der würdigsten Ver-
treter der neuen Weltanschauung war
der am 6. April 1898 verstorbene Ober-
Präsidialrath a. D. Theodor Schultze
in Potsdam. Über diesen merkwürdigen
Marm ist soeben eine kurze biographische
Skizze von dem durch seine pessimistischen
Dichtungen bekannten Frankfurter Schrift-

steller Dr. Arthur Pfungst erschienen,*
die einen interessanten Überblick gibt
über seinen Lebensgang und seine An-
schauungen.

Ich will Einiges daraus mittheilen, um
den Leser auf eine der merkwürdigsten
Erscheinungen unserer Zeit aufmerksam
zu machen. Vor allem kann man aus
der Lebensgeschichte und besonders aus
dem Lebensende unseres Buddhisten er-
sehen, dass die katholischen Gelehrten
Unrecht haben, zu behaupten, das
Christenthum allein gebe die sittliche
Kraft, Grosses zu leisten. Das Leben
Schultzes widerlegt diese Vorstellung.
Dieser lebte wie ein Heiliger, streng

* Verlag von Frommann in Stuttgart, 1899.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 24, S. 566, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-24_n0566.html)