Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 587
Text
Gabst Du uns nicht der Liebe Entzücken in lenzlicher Zeit, da Brust an Brust
des ersten Kusses magische Macht verschämten Rausch in Seelen senkt, die sich
heimlich geschenkt?
Gabst Du uns nicht der Arbeit Mühe, vermengt mit der Musse winkender Rast,
des Willens stachelndes, starkes Streben, des Schlafes träumende, selige Ruhe, lieb=
liche Nacht nach thatvollem Tag?
Gabst Du uns nicht des Singens Gabe, der Töne Zauber, der Farben Spiel, des
Marmors Meissel, des Liedes Lyra? Gabst Du uns Kraft nicht, zum Himmel zu heben
der Kirchen Kuppeln, des Tempels Thurm?
Gabst Du uns nicht holdselige Träume, erfüllt von des Lebens spielender Lust,
warme Gefühle, die schwelgen in Duft, kühne Gedanken, die Tiefen ergründen, Glauben
und Sehnsucht, Hoffnung und Muth?
Ach, ich vermag nicht, wie ich es wünschte, die Wunder zu nennen, die tausend=
fältigen, die Du weit über die Welt verstreut als Gabe dem mürrischen Menschen=
geschlecht.
Undank, nur Undank in Wort und Gedanken erntest Du ein, wo Du herrlich gesät.
Und nun wir verschmäht Deinen Reichthum, verspottet das Schöne und Dich
geärgert mit Undank und Klage, reichst Du uns mit beglückender Hand des Todes
betäubenden, herrlichen Trank und führst nach lächelnden Auen den Weg, auf dass
wir der neuen Wunder geniessen und Dich, Du Hoher, aufs neue verdammen.*
* Deutsch von ELSBETH SCHERING.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 587, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-25_n0587.html)