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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 588

Text

DIE GERETTETE.
Von ELSBETH MEYER-FÖRSTER (Berlin).

Meine Herren! — sagte das arme, ver-
hexte, verteufelte Ding, das den Mund
auch vor Gericht nicht hielt — was sollte
ich machen? Ich war in diese Lage ge-
rathen, ohne es zu wollen. Ich war über-
rascht von ihr, gänzlich niedergeschmettert.
Wirklich, ich gieng gern ins Wasser.
Es war nichts anderes mehr für mich zu
holen — — Und als Ihr Gemeindediener
mich herausfischte, mich an den Haaren
in seinen Vergnügungskahn zog, da schlug
ich ihn, es ist wahr, ins Gesicht.

Welches Recht hatte er an mich? Eine
Welle murmelte an seinen Kahn. Ein
Gesicht, das sich verbergen wollte, sich
retten ins Erbarmende, schaukelte vor seinen
Augen auf den Wogen, mit schon friedlich
geschlossenen Lidern. Er hakte danach,
wie er noch zuvor nach der Wasserrose
gehakt hatte, die ihn beim Angeln störte.
›Holiah!« schrie er mit einer Mörder-
stimme, »holiah, will sie wohl?« und griff
zu. Ja, ich erwachte aus meinem tiefen
Meerestraum. Ich, die schon abgeschlossen
hatte — den Kampf des Erstickens schon
hinter mir hatte. Ich wollte gehen. Ich
selbst, mit meiner eigenen Seele, meinem
eigenen Gewissen hatte es mir bestimmt.
Er aber schrie und schüttelte mich ans
Tageslicht zurück: »Holiah! — Was da!
holiah, he!!« — — War es denn nicht
das Einzige, sagen Sie selbst, für mich, zu
geh’n?

Es war ein solcher Frühlingstag, als
ich dem Ganzen entgegenfuhr! Solche Tage
gibt es, an denen wir machtlos sind, stumm
wie die Bäume, über die ein Schauer nieder-
geht.

Mit mir im Bahncoupe sassen zwei
Frauen, ein rothes Kreuz in den Brustlatz
eingenäht. Es waren also Würdige,
»Schwestern«, von irgend einer erhabenen
Vereinigung. Aus ihren Reden erfuhr ich’s,
sie gehörten zum Mädchen-Rettungsverein.
Von vornherein sahen sie mich mit durch-
dringenden Blicken an. Die eine hatte ein

wahres Wolfsgesicht. Ihre Kiefern sahen
so grausam aus, als wollten sie etwas zer-
malmen. Ich weiss noch, dass die andere
an ihrem Arm ein dickes, gelbes Bernstein-
Armband trug, mit Steinen, gross genug,
um einen Kinderschädel zu zertrümmern.
Ihre Schultern, ihre Brust waren männ-
lich — der Vergleich mag seltsam sein —
aber sie und ihre Gefährtin machten auf
mich den Eindruck von wilden Kriegern,
die mit Waffen aus rohem Stein in den
Kampf ziehen.

»Wohin reisen Sie?«, sagte die eine —
und ich sagte es ihnen. Ich weiss nicht,
welche Macht, welche Angst mich zwang,
ihnen zu beichten. Aber ich erzählte ihnen
alles; mein Unglück, das mich aus dem
Elternhause trieb, und meine Hoffnung,
in der grossen, fremden Stadt mein Brot
zu finden, nachdem mich die Eltern bei
Nacht und Nebel auf die Strasse getrieben
hatten.

»Sie sind also eine Verführte?«, sagte
die eine der beiden, die mit dem Wolfs-
gesicht. »Dann hoffen Sie nur nicht, ein
rechtliches Unterkommen zu finden. Man
wird nach Ihrer Vergangenheit forschen.
Und Sie haben keinerlei Ausweis, keine
Ermächtigung von Ihren Eltern. Ein un-
mündiges, verführtes Ding nimmt niemand
in sein Haus.«

Sie schwieg und beide blickten mich
mit starren Augen hart und nieder-
schmetternd an.

»Sie haben nur eine Zuflucht«, sagte
die andere, die mit der Bernsteinkette,
»nur eine auf dieser Welt: unser Rettungs-
haus«.

Sie beugten sich beide vor und nun
sprachen sie auf mich ein. Ich sehe noch
die flammenden Kreuze auf ihrer Brust.
Ich starrte auf diese hin. Armselig und
verloren sass ich vor ihnen da in meinem
zerknitterten Sonntagsstaat, wie ich ihn
zum Tanze getragen hatte. In denselben
Kleidern, in denen ich mit meinem Ge-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 588, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-25_n0588.html)