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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 589

Text

MEYER-FÖRSTER: DIE GERETTETE.

liebten die Nacht durch im Walde ver-
bracht und früh morgens zu Hause Einlass
begehrt hatte und von den Eltern wieder
hinausgetrieben worden war.

»Kommen Sie mit, Sie sollen Aufnahme
haben,« wiederholten sie, nachdem wir
am Ziele angekommen waren.

Sie schritten voran, und ich, betäubt
von ihren Worten und von ihrer Würde,
folgte ihnen stumm. Wir giengen einen
herrlichen Weg. Es war, als wenn es jubelte
und lachte aus allen Büschen, die sich vor
Blüten und Duft förmlich schüttelten. Es
hatte geregnet die Nacht und überall gieng
deshalb ein Rieseln und Rinnen, von jeder
Baumwurzel zu jedem Grashalm hin, das
Herz des Waldes war aufgethaut und
sprudelte über in tausend lustigen Strömen
— — Holzhauer kamen bei uns vorbei,
junge Männer mit Beilen und Äxten, die
lachten und pfiffen zu mir hin, ihre Kleider
rochen nach Frische und Harz, und ich
fühlte, ich wäre gern mit ihnen gegangen.

Und ich fühlte das Tanzen und
Springen und Jubeln in meinem Blut. Ich
wollte demüthig sein und geduckt und
mich schämen bis ins Tiefste meiner
Seele, aber ich konnte es nicht. Die
Nacht rumorte in mir, die liebe, selige
Nacht, in der ich die Liebe empfangen
hatte. Mein Sinn war aufgelöst, ich fühlte
die Hände des Geliebten in meinem
Nacken, Rosenblätter tanzten vor meinen
Blicken, und auf meinen Lippen war ein
Geschmack von Küssen und Wein. Wie
soll das werden? — dachte ich — ich bin
wie trunken, wie verberge ich mich? Die
beiden Schwestern sahen zuweilen auf
mich hin. Und in ihren Gesichtern sah
ich Zorn.

So kamen wir an das Rettungshaus.
Wir giengen durch einen Hof, in dem
verwildert aussehende Mädchen an den
Bottichen standen und Wäsche wuschen.
»Gerettete, gleich Dir«, sagte die Oberin,
die mit der schweren Bernsteinkette. Und
ich blickte auf meine geretteten Schwestern
hin. Ihre Gesichter waren verwüstet, sie
sahen mich mit frechem Lächeln an.

»Nun hast Du Deinen Schwur zu
leisten«, hiess es, als ich in das Bibel-
zimmer trat. »Du wirst fürs erste nur
aufgenommen unter der Verpflichtung,

Dich drei Monate lang an unsere Anstalt
gebunden zu halten.«

In dem Zimmer, an einem langen,
kahlen Tisch, sass die Oberin, zu der
mich die beiden führten. »Willst Du also
schwören?«, fragte sie. Ich murmelte:
»Ich schwöre es«. Dann trat ich zurück.

Ich wusste in dieser selben Minute,
dass ich den Schwur nicht halten würde.

Ich erhielt einen Kittel aus grauem
Kattun, wie die Anderen, einen Platz an
einem leeren Bottich, gleich ihnen, und
am Abend nahm uns ein und derselbe
Schlafraum auf.

Haben Sie trunkene Weiber gesehen,
die am Rande der Gräben nächtigen und
den Dorfkindern ein Gaudium verschaffen,
indem sie sich ihrer Lumpen langsam
und höhnend entledigen, ihrer Blössen
nicht achtend? Solche waren diese
Schwestern, oder suchten es zu sein, mit
denen ich nun zu Bette gieng. Wie, also
ihresgleichen sollte ich sein? Ich — die
Genossin dieser Thiere? Ich vermochte
es nicht zu fassen!? Ich also hatte ge-
sündigt wie sie, sollte nicht besser sein
als diese? Das, was ich gethan, das, was
ich nun war, es sollte jene Namen führen,
die sie mir höhnend entgegenwarfen?
Nimmermehr! Nimmermehr! Hand in
Hand war ich mit dem Geliebten durch
den Wald gewandert. Thränen und Küsse
hatten uns überschwemmt, und als wir
zu Athem kamen, waren wir Eins. Vater
und Mutter hatten das nicht erfassen
wollen, ihnen galt nicht die Hochzeit im
Walde, ohne Tafel und Gläserklingen
und Bibel und Hochzeitsmarsch. Mir aber
galt sie, und vielleicht auch ihm, ob
wir uns auch nimmermehr wiedersehen
würden; denn wir hatten uns nichts ge-
lobt für immerdar, die Stunde, die Nacht
war uns genug, ihn trieb schon der
nächste Morgen wieder weiter auf seiner
Wanderschaft, mich drängte meine Armuth
ins Elternhaus zurück.

Und nun sollte ich sein, was diese
waren? O, ich konnte warten, ich wartete
die ganze Nacht. Gegen Morgen schlief
das ganze Haus.

Ich weiss nicht, wie ich hinaus kam,
ich weiss so Vieles nicht. Sie sagen, ich
habe mich in die Stube der Schliesserin
gestohlen und wie eine Diebin gesucht,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 589, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-25_n0589.html)