Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 590

Die Gerettete Die materielle und moralische Stellung des Schriftstellers in Paris I. (Meyer Förster, ElsbethMauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 590

Text

MAUCLAIR: DIE STELLUNG DES SCHRIFTSTELLERS IN PARIS.

bis ich unter dem Kopfkissen der
schlafenden Alten den Schlüssel zum
Gartenthor fand.

Nun gut, ich mag ihn gestohlen
haben. Mütter stehlen für ihre Kinder,
Menschen für ihre Freiheit. So geht das
Stehlen durch die Welt. Denen die Hände
beschnitten sind, die greifen zu mit ihren
Füssen.

Ich wusste nun, dass das Einzige für
mich war — der Fluss. Weitertaumeln,
weiter gerettet werden, verjubeln, ver-
trauern das Leben — — wie es auch
kommen würde, seine Feierstunde war
ausgekostet! Was nun kam, war nur
noch der schwache Nachhall, war nur das
breite, arme, erzgewöhnliche Menschenlos.

Ich sehe an Ihren Gesichtern, das
geben Sie mir nicht zu. Weiterleben —
unter allen Umständen, unter welcher
Bedingung es auch sei — das ist es,
was Sie fordern.

Ich aber hatte noch die Nacht in
den Sinnen, diese herrliche, grosse
Liebesnacht, die Sie nie gefühlt haben,

die allen Kleinmuth und alle vage Hoff-
nung auf ein zurechtgeflicktes, neues
Leben zu Schanden macht. Als gieng’s
zu einem Balle hin, so leicht, so fröhlich
schwang ich mich hinab. Die Fluten
rauschten, und mein Menschenlos ver-
gieng. Da packten mich Fäuste und rissen
mich zurück.

Sie schwieg, lehnte sich zurück und
hüllte sich wieder in ihren grossen,
schwarzen Mantel ein, aus dem sie mit
müden, todten Zügen, mit gebrochener
Stimme zu den Richtern aufgeredet
hatte.

Die sahen sich mit Achselzucken an.
»Sie sind entlastet,« sagte der eine, »aber
halten Sie sich von nun an ehrlich und
brav. Ihre armen Eltern werden Ihnen
verzeihen. Suchen Sie Ihr ‚zu Haus‘!«

Und ohne daran zu denken, dass dies
»zu Haus« längst von ihr gefunden
worden, schritten sie langsam und würde-
voll dem Ausgang zu.

DIE MATERIELLE UND MORALISCHE STELLUNG
DES SCHRIFTSTELLERS IN PARIS.
Von CAMILLE MAUCLAIR (Paris).*

Es ist ein bekanntes Vorurtheil des
Publicums, den Beruf des französischen
Schriftstellers als sehr beneidenswert zu
betrachten. Die nachfolgenden Ausfüh-
rungen dürften eine Enttäuschung bereiten;
sie erheben nur den Anspruch, eine Meinung
zu rectificieren, die, eben weil sie so all-
gemein verbreitet, darum desto irriger ist.
Es steht fest, dass das Publicum nichts
Genaues über den Schriftsteller weiss,
und doch sind die Zeitungen voll von
Einzelheiten über den Beruf, Interviews,
Reclamen und Notizen über die berühm-
ten Schriftsteller. Doch alle diese Notizen
sind falsch, und man muss die Dinge
von Anfang an betrachten.

Zuerst muss man erklären, was man
überhaupt unter einem Schriftsteller ver-

steht. Wo fängt der Schriftsteller an und
wo endigt er? Es gibt Leute, die von
Publicität leben und keine Schriftsteller
sind; es gibt welche, die sich von einem
Beruf erholen, indem sie wunderbare
Prosa-Arbeiten verfassen, und es ebenso-
wenig sind; man hat sich kürzlich in den
Zeitungen darüber gestritten, um den
Dilettanten vom »Berufsmenschen« zu unter-
scheiden, und daraus hat sich eine Fülle
anspruchsvoller und weitschweifiger Artikel
ergeben, die die Frage nur noch mehr
verdunkelten. Man kann schreiben und
davon leben; man kann schreiben, ohne
einen Nutzen daraus ziehen zu wollen,
und in beiden Fällen kann man Talent
haben. Halten wir uns deshalb an den
Fall eines talentvollen Mannes, der von

* Deutsch von WILHELM THAL.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 590, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-25_n0590.html)