Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 597

Die materielle und moralische Stellung des Schriftstellers in Paris I. Zur Physiologie des Betens (Mauclair, CamilleArjuna, Harald van Jostenoode)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 597

Text

ARJUNA: ZUR PHYSIOLOGIE DES BETENS.

für diese drei Productionen. Ich füge hinzu,
dass die Bezahlung nicht allein im um-
gekehrten Verhältnis zur materiellen Arbeit,
sondern auch zu dem ausgegebenen Talent
erfolgt, denn ich glaube nicht, dass es

jemand in den Sinn kommt, in sechs
amüsanten oder gewissenhaften Artikeln
mehr Talent zu finden als in einem
interessanten Roman.*

Ein zweiter Artikel folgt im nächsten Hefte. D. RED.

ZUR PHYSIOLOGIE DES BETENS.
Von HARALD ARJUNA VAN JOSTENOODE (Lüttich).

Soeben geht mir die Nummer vom
15. August 1899 der »Wiener Rundschau«
zu, welche einen interessanten Aufsatz des
bekannten schwedischen Gelehrten und
Romanciers August Strindberg enthält. Die
Arbeit trägt den Titel: »Zur Psychologie
des Betens«, hätte aber wohl besser »Zur
Physiologie des Betens« genannt werden
können; denn Strindbergs Ansicht nach ist
die Wirkung des Gebetes eine durchaus
subjective, physische, die den Menschen zu
einer grösseren Kraftanstrengung antreibt.

Ich halte diese Meinung nun zwar für
richtig, aber einseitig, und will daher im
folgenden so kurz als möglich meine
eigene Ansicht als Ergänzung derselben
angeben. Sie stützt sich auf die alte Weis-
heit der Occultisten, besonders des Orients,
und steht im Einklang mit der Erfahrung
und den Anschauungen aufgeklärter Theo-
logen.

Das Gebet ist ein mystischer Act, der —
wie alle mystischen Handlungen — eine
magische Wirkung ausübt. Unter magischer
Wirkung verstehe ich eine solche, welche
nicht durch die gewöhnlichen, bis jetzt be-
kannten und angenommenen Naturgesetze
erklärt werden kann; also im Grunde Das,
was man ein »Wunder« zu nennen pflegt.

In der ganzen Welt herrscht eingestan-
denermassen das Gesetz von Ursache und
Wirkung. Ohne das Gesetz kann selbst
der empirischeste Materialist nicht aus-
kommen. Jeder Handlung entspricht noth-
wendigerweise eine entsprechende Wirkung.
Nichts ist umsonst.

Nun denken wir uns einmal eine Mutter,
welche mit aller Inbrunst für ihr krankes

Kind betet, das meilenweit von ihr entfernt
in einem Spitale liegt! Wenn die Wirkung
nur eine auf den Körper der Mutter be-
rechnete wäre, dann könnte doch von einer
Heilung des Kindes niemals die Rede sein.
Solche Fälle von Fernwirkung hat man
aber in Masse, wie Jeder aus der grossen
vorhandenen Literatur über diesen Gegen-
stand ersehen kann. Ich verweise nur auf
das letzte Werk des verstorbenen Philo-
sophen Carl du Prel: »Die Magie als Natur-
wissenschaft«.

Wie ist nun die directe Wirkung des
Gebetes zu erklären? Jeder Gedanke, der
sich aus dem Gehirn losringt, ist eine
physische Kraft, welche in den Äther geht.
Hellsehende haben schon oft die Gedanken
Anderer in Gestalt von Figuren erblickt,
welche aus ihren Köpfen aufstiegen. Ein
Materialist muss unbedingt annehmen, da
er nur Materie und Kraft kennt, dass Ge-
danken physische Dinge sind. Ist der Ge-
danke ein Product des physischen Gehirns,
so müssen auch seine Wirkungen physische
sein. Sie müssen Kraft und Stoff zugleich
sein und dieselbe Wirkung ausüben wie
jede Kraft und jeder Stoff. Je feiner aber
der Stoff, desto grösser die Kraft. Also
müssen die höchsten Gedanken auch die
feinsten Gedankenbilder erzeugen und die
grösste Wirkung ausüben.

Jeder, welcher einige Erfahrung auf
dem Gebiete des Occultismus hat, kann
dies bestätigen. Ein geistesgewaltiger Mann
wird eine ganze Rotte unbedeutender Köpfe
beherrschen. Ein grösser Redner bezaubert
eine ganze Versammlung, und als die Häscher
Christus angreifen wollten, fielen sie vor

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 597, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-25_n0597.html)