Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 604

»Don Juan« und »Fra Diavolo« (Kolb, Annette)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 604

Text

KOLB: »DON JUAN« UND »FRA DIAVOLO«.

selben Elementen bestehen. Neue Zeiten
bringen neue Benennungen für alte
Brüder! — Die Illusion des Fortschrittes
wird hiedurch für Legionen gewahrt,
indessen bleibt das Grosse und Göttliche
ebenso selten, ebenso verborgen, ebenso
verkannt, es hat, wo es zutage tritt,
denselben alten Kampf, dieselbe Mühe —
denn es trifft auf denselben alten Un-
verstand! — Und wahrlich, es thäte uns
doch so noth, dass wir vorwärtsstrebten
mit dem reichen Material, das uns zu
Gebote steht, nachdem soviele Schätze
zu bergen, soviele Wege gewiesen sind
und soviele Pfade unserer Entdeckung
naheliegen.

Aber alle Meisterwerke, alle Museen
und Opernhäuser der Welt werden keinen
Schritt für uns thun, sie werden nicht
ein Gemüth bilden — geschweige denn
vertiefen und veredeln, das sich nicht
selbst dieser heimlichen Mühe unterzieht;
und das heutige Breitschlagen unserer
grossen Schöpfungen ist nichts anderes
als ein Substitut unserer Trägheit —
ein jämmerliches Symbol unserer Rohheit.
— Wenn wir daher heutzutage die an-
scheinend so herzstärkende Thatsache
erleben, dass wir zweimal wöchentlich
den ›Don Juan«, so oft es sich machen lässt:
den »Ring«, den »Tristan«, den »Fidelio«
vernehmen, und womöglich ein halbes
Dutzendmal im Jahre die 9. Symphonie,
so dünken wir uns als Lieblinge der
Musen einherwandelnd, nicht ahnend, dass
sie in voller Neunzahl schaudernd vor
uns flohen, und dass wir nur den Hain,
den sie verliessen, in Beschlag nahmen
und verwüsten. Unsere künstlerischen
Misstände sind, weiss Gott, mit freiem
Auge übersichtlich. Aber wer spricht
sich heute, in unserem Zeitalter der
Aufklärung, der fortgeschrittenen Civili-
sation u. s. w. frei darüber aus? Selbst
unsere schlimmsten Entgleisungen ent-
gehen der Beobachtung und der Rüge.

Und wer ereifert sich heute noch in Mün-
chen über die Neu-Inscenierung des »Don
Juan« und seine Verlegung in ein kleines
Rococo-Zier-Theater? — Einige mehr
oder minder relegierte Musiker werden
wohl die Köpfe geschüttelt haben, aber
da sie ohne Einfluss auf die öffentliche
Stimme blieben, und der ›Don Juan« sich

trotzdem als ein entschiedener Er-
folg zu beglaubigen vermochte, liess man
sie reden. War es nun ein überaus
glücklicher und naheliegender Gedanke,
den »Figaro« auf eine Bühne zu ver-
legen, die eigens dafür errichtet zu sein
scheint, und ist damals auch dieses Pro-
ject auf das liebenswürdigste geglückt,
so blieb der hierauf ganz in demselben
Geiste wie »Figaro« unternommene, klein
gestückelte Residenz- Theaterchen- »Don
Juan« für einen wirklichen Mozart-Verehrer
ein nicht zu verwindender Schlag. Eine
Novität war es freilich. Und ganz richtig
stand auch jener ferngerückte, unergründ-
liche Don Juan plötzlich als ein ganz neuer
Herr, als ein Don Giovanni, den niemand
kannte, wieder auf. Und insoferne
es gilt, diesen neuen »Giovanni« auf
einer ganz possierlichen Drehbühne zu
sehen, die bei jeder Wandlung ein »Ah!«
der Bewunderung bei vielen Provinzlern
erzielt, insoferne ist jeder Giovanni —
jeder Johann zu unserer Ergötzung be-
rechtigt.

Soll aber damit gesagt sein, dass
Mozarts unvergänglichstes Werk unserem
Verständnis nähergebracht wurde und
man hiemit in seiner Auffassung vor-
gerückt sei, dann gilt es, der Wahrheit
zuliebe zu protestieren; dann gilt es, zu
sagen: ›Wir haben den Don Juan ver-
loren! Seine Bedeutung ist uns zunichte
gemacht! Der Don Giovanni, wie er
sich mit Erfolg hier kundgibt, ist einer
der gröbsten künsterischen Missgriffe
unserer Zeit«.

Der Don Juan ist ein Charakter von
bedeutungsvollster Tragik, und Mozart hat
die Tragweite dieser Erscheinung nicht
nur gewürdigt, er hat ihr durch den
Zauber seiner unvergleichlichen Musik un-
erschöpfliche Saiten entnommen, und
keine Worte, keine psychologischen Er-
örterungen hätten ein ahnungsvolleres
Licht über diese Gestalt werfen können,
als die magische Unmittelbarkeit seiner
Töne. Diese Krone aller Opern lässt
sich mit groben Händen nicht antasten.
Sie erheischt in ihrer gesammten Dar-
stellung vor allem Das, was in ihr liegt:
»Perspective«.

Aber wie roh ward hier die Illusion
zerstört! Mit welchem Ärger empfinden

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 604, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-25_n0604.html)