Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 603

»Don Juan« und »Fra Diavolo« (Kolb, Annette)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 603

Text

»DON JUAN« UND »FRA DIAVOLO«.
Von ANNETTE KOLB (München).

Es bleibt immer eine schwierige Sache,
einer allgemeinen Meinung gegenüber
eine entgegengesetzte geltend zu machen,
und sie gewinnt durch ihre Isoliertheit
jene Ohnmacht, welcher einer einzelnen
Stimme zu eigen bleibt, die von vielen
anderen Stimmen übertäubt wird. Nichts
ist ja leichter! — Die »öffentliche
Meinung«, so oft man sie auch als
Meinungslosigkeit schelten mag, ist nichts-
destoweniger eine Macht, und in gedräng-
ten Reihen rücken ihre Träger Dem ent-
gegen, der, ihrer nicht mehr gedenkend,
einsam geht. Da sieht er sich angesichts
ihrer Scharen und verstummt. Aber
zur bitteren Erfahrung wird ihm nun
eben jener Zwiespalt zwischen dem Drange,
für seine innerste Überzeugung einzu-
stehen, und dem Bewusstsein seiner Ohn-
macht; — und misst er seine empörte
Miene mit der tauben Befriedigung, die
ihn rings umgibt, so möchte er fast Den
beneiden, dem Alles recht dünkt, was er
loben hört, und den keine persönliche
Meinung wie ein Vorwurf drückt.

Aber die ehrliche Verdrossenheit des
Erkennenden entspringt aus seiner Ein-
sicht in die Tragweite eines Irrthums.
Wer diesem gegenüber gleichgütig, achsel-
zuckend oder ironisch sich verhält, dem
fehlt der »Blick für das Ganze«, es ent-
geht ihm die Folgewichtigkeit jener »bösen
That« des Geistes, die gleich jeder anderen
»sich stets neu gebiert«.

Einer unserer schärfsten Denker be-
zeichnet rundweg als den Hauptfehler
der Menschen die Trägheit und fällt
hierin mit dem alten Sprichworte zu-
sammen, das sie als Mutter aller Laster
proclamiert und die unverhohlene Aus-
sprache des Philosophen mit einer Um-
schreibung umgeht.

Betrachten wir aber aufmerksam die
Ruhelosigkeit, die Hast und Jagd der an
uns vorüberziehenden Menge, lassen wir
das Treiben und Gewoge einer Stadt sich

unserer Beobachtung aufdrängen — nicht
strebend, nicht wirkend, nicht denkend
prägt sich der Charakter ihrer Thätigkeit
auf uns ein. Es ist der »Augenblick«, der
zu herrschen und sie Alle zu halten scheint;
die Gedankenlosen in ihm befangen, die
Rastlosen in der Flucht.

Und eben jene Rastlosigkeit, jene Un-
ruhe ist der Grundzug unserer modernen
Trägheit! So gern wir es auch den zu
hohen, nicht mehr zu befriedigenden An-
forderungen unserer raffinierten Organismen
zuschreiben möchten, wenn unsere Nerven
zerrüttet sind, unser Empfindungs-Ver-
mögen tausend Störungen erleidet, so dass
alle Fülle des Herzens von uns genommen
scheint.

Statt diese kläglichen Symptome
unserer Unzulänglichkeit zur Last zu
legen, wähnen wir, die Compliciertheit
unserer modernen Seelen sei an dieser
Zersplitterung schuld. Könnte man unserer
überreizten Generation die Wahrheit zu
Gemüthe führen, dass nicht Überfülle,
sondern stets Mangel an Geist die letzte
Ursache sowohl der Masslosigkeit als des
Überdrusses sind — wie würden sie da
ihre halbgeschlossenen Lider verwundert
öffnen und uns in verletzter Eitelkeit an-
starren; ahnen sie doch nicht, wie alle
ihre Ergüsse die Schranken ihres dürftigen
Ichs, das nicht mehr überzugreifen, son-
dern nur zu übertreiben vermag, erbar-
mungslos markieren.

Ach! Und was sie besonders ver-
gassen, dass wahre, tiefe Begeisterung
stets die aufwärtsstrebende blaue Blume
»schöner Sittlichkeit« sein wird!

Wie Mancher stellt sich uns heute
als patentierter Neurastheniker vor, der in
seines Herzens Kämmerlein ein luftdichter
Barbar ist. Nur tempora mutantur!
Die Menschen gleichen den Bildern des
Kaleidoskops, die uns durch ihre uner-
müdlichen neuen Gestaltungen darüber
hinwegtäuschen, dass sie stets aus den-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 25, S. 603, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-25_n0603.html)