Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 27, S. 639

Die Accorde Mozarts Wer ist Zarathustra? (Pastor, WillyHartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 27, S. 639

Text

HARTMANN: WER IST ZARATHUSTRA?

auf uns dur- oder moll-artig wirken läßt.
Denn, ob die enge oder weite oder ge-
mischte Lage gewählt ist, das Ohr hört
außer den indifferenten Intervallen der
Quarte und Quinte im einen Falle nur die
große, im anderen nur die kleine Form
der Terz.

Wie aber verhält es sich nun bei Um-
kehrung der Accorde, wenn nicht der
Grundton, sondern die große oder kleine
Terz uns den Gesichtswinkel abgibt,
unter dem wir diesen Accord betrachten?

Vergleichen wir die Accorde selbst an
einem praktischen Beispiele. Hören wir
zunächst in Dur:

c2
e1
g
c

und

c2
e1
g
e

Sodann in Moll:

c2
es1
g
c

und

c2
g1
c1
es

Kein Zweifel, dass in beiden Fällen
die »dur-artige« und »moll-artige Wirkung«
nicht aufgehoben, aber doch bedeutend
abgeschwächt erscheint. Die veränderte
Wirkung kann sich noch weniger geltend
machen, wenn die Accorde in Terz-Stellung
nur vorübergehend in einem Stück aus
Dur vorkommen, zu beiden Seiten um-
geben von Accorden der Grundstellung.

Muss sie aber nicht umgekehrt stärker
und stärker hervortreten, wenn in den
umgebenden Accorden die Grundstellung
geflissentlich vermieden wird, wenn die
umgekehrte Stellung zur Regel, die Grund-
stellung zur Ausnahme wird?

Wir untersuchten die Accorde Mozarts
auf das Geheimnis ihrer Wirkung; hier
wird es uns klar. Diese so unendlich
differenzierte Ausdrucksweise seiner Kunst
mit so unendlich einfachen Elementen,
seine Gabe, mit klaren Worten jene un-
sicheren schwebenden Stimmungen zu
treffen, die den modernen Menschen so
unruhig machen, das alles erreicht Mozart
mit dem scheinbar trivialen Mittel der
Accord-Stellung, in dem er wie kein zweiter
Meister war.

Ein Vergleich aus der bildenden Kunst
mag diese Ausführungen beschließen.
Lionardo hat bisweilen, in seinen Hand-
zeichnungen namentlich, einen Typus
junger Männer und Weiber geschildert,
der die Psychologen des Gesichtsaus-
druckes fesselt als Beispiel der »combi-
nierten Ausdrucksform«. Diese jungen
Mädchen lachen mit den Augen, aber um
ihren Mund spielt ein Zug geheimer
Wehmuth; die Lippen dieser Jünglinge
kräuselt ein leichtes Lächeln, aber ihre
Augen schauen ernst und groß ins Weite.

Das sind die Accorde Mozarts, diese
räthselhaften Klänge, die uns späten Enkeln
noch so viel zu sagen haben.

WER IST ZARATHUSTRA?
(Friedrich Nietzsche und seine Philosophie.)
Von FRANZ HARTMANN (Florenz).

Es ist eine alte Geschichte, dass die
Wahrheit noch nie unter den Menschen
erschienen ist, ohne von der großen Menge
verkannt, missbraucht, verspottet und ge-
kreuzigt zu werden, und wie es der Wahr-

heit ergeht, so ergeht es auch ihren
Propheten. Auch ist es eine bekannte
Thatsache, dass, wenn ein Strahl des
Lichtes der Wahrheit in unreife oder ver-
kehrte Gemüther fällt, er dadurch selber

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 27, S. 639, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-27_n0639.html)