Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 27, S. 640

Wer ist Zarathustra? (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 27, S. 640

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HARTMANN: WER IST ZARATHUSTRA?

verkehrt und zurückgeworfen wird; da
wird dann die Wahrheit zur Lüge, und
nicht die Wahrheit, wohl aber das Miss-
verständnis derselben richtet überall Un-
heil an. Nietzsche und seine Philosophie
machen von dieser allgemeinen Regel
keine Ausnahme, und so finden wir denn
unter denen, die sich mit dem Studium
seiner Schriften beschäftigt haben, ver-
schiedene Parteien; wenige, die ihn
verstehen, viele, die ihn missverstehen,
und unter diesen solche, die ihn zum
Himmel erheben, und andere, die ihn
verdammen.

Henri Lichtenberger sagt*: »Ehe
man Nietzsches Lehre studiert, ist es nöthig,
sich ganz mit dem Gedanken vertraut zu
machen, dass sie — nach eigenem Zu-
geständnisse ihres Schöpfers — weniger
eine Sammlung abstracter Wahrheiten
von allgemeiner Tragweite, als das leben-
dige Abbild eines individuellen Charakters,
eines sehr eigenartigen Temperaments,
dass sie die aufrichtige und leidenschaft-
liche Confession einer Seele seltenster Art
ist.« Damit ist aber noch wenig gedient,
wenn man nicht selbst fähig ist, in den
Geist Friedrich Nietzsches einzugehen, sich
zu jener Geisteshöhe emporzuschwingen,
von welcher er heruntersah, mit ihm zu
schauen und mit ihm zu empfinden. Der
Egoist, der in sich selbst kein anderes
Ich erblickt als das alltägliche, kleinliche,
sterbliche Selbst mit seinen persönlichen
Begierden und Neigungen, wird auch in
Nietzsches »Übermenschen« nur einen von
Größenwahn besessenen Egoisten erkennen,
der sich besser als andere zu sein dünkt,
und indem er darnach strebt, ein solcher
Übermensch zu werden, oder sich einbildet,
ein solcher zu sein, wird aus ihm am
Ende ein eingebildeter Narr.

Das Wort »Philosophie« (Liebe zur
Weisheit) hat in unserem Zeitalter des
objectiven Forschens längst seine wahre
Bedeutung vorloren, und man versteht
darunter gewöhnlich nur mehr jene
intellectuelle, aber gefühl- und herzlose
Gehirnspeculation, welche durch Vergleiche
aller möglichen Theorien und Schluss-
folgerungen herauszugrübeln sucht, welche

Theorie die wahrscheinlich richtigste
ist. Von einer »Theosophie«, d. h. von
einer wahren Selbst-Erkenntnis, die aus
dem Innern des Herzens entspringt, die
Seele erhebt und den Verstand erleuchtet,
sowie es bei Nietzsche augenscheinlich
der Fall war, ist unter unseren modernen
Philosophen wenig zu finden; wir haben
viele Grübler, scharfsinnige Wortklauber
und kluge Haarspalter, aber wenige Heilige,
und wenige, die sich eine Vorstellung
davon machen können, was man unter
»Selbst-Erkenntnis« versteht; und der natür-
liche Grund dieses Nichtbegreifens ist,
dass niemand eine innerliche Seelenkraft
intellectuell begreifen kann, wenn er sie
nicht in sich selber besitzt und sie in
sich selber fühlt.

Wenn ihr’s nicht fühlt,
Ihr werdet’s nicht begreifen

Nietzsche ist für uns viel mehr als
ein solcher moderner »Philosoph«; aus
vielen seiner Schriften leuchtet uns die
Theosophie oder Gottes-Erkenntnis im
wahren Sinne dieses Wortes
entgegen.
Diese Theosophie hat nichts mit persön-
lichem Wissen und Wollen, nichts mit
Persönlichkeiten oder Autoritätenglauben
zu thun; sie tritt, wie es die indischen
sowohl als die christlichen Mystiker seit
Jahrtausenden lehren, erst dann ein, wenn
der Geist des Menschen sich über den
Wahn der eigenen Selbstheit zum Ewigen
und Unvergänglichen emporschwingt, eins
wird mit dem Alleinigen, und seine
irdische Persönlichkeit ihm nur mehr wie
ein Schatten erscheint. Wenn das wahre
göttliche Selbstsein des Menschen offenbar
wird, dann verschwindet der Selbstwahn der
Persönlichkeit; dann wird dasjenige, was
vorher nur als Intuition empfunden wurde,
zur klaren Selbst-Erkenntnis; dann steht
der Mensch auf eigenen Füßen und bedarf
keiner Autoritäten mehr. Wer in sich
selbst den Meister gefunden hat, der
bedarf keines äußerlichen Meisters mehr;
er verliert seinen Meister, aber er findet ihn
wieder, indem er sich selbst als den
Meister erkennt. Dies ist es, was Zara-
thustra meint, wenn er zu seinen Ge-

* »Die Philosophie Friedrich Nietzsches von Henri Lichtenberger, mit Einleitung
von Elisabeth Förster-Nietzsche«. Dresden und Leipzig. Verlag von Carl Reissner, 1899.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 27, S. 640, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-27_n0640.html)