Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 27, S. 641

Wer ist Zarathustra? (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 27, S. 641

Text

HARTMANN: WER IST ZARATHUSTRA?

treuen sagt, was aber auch nur von den
wenigen, die den Meister kennen, be-
griffen wird:

»Allein gehe ich nun, meine Jünger! Auch
ihr gehet nun davon und allein! So will ich es.
Wahrlich, ich rathe euch: geht fort von
mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und
besser noch: schämt euch seiner. Vielleicht
betrog er euch

Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber
was liegt an Zarathustra? Ihr seid meine
Gläubigen; aber was liegt an allen Gläubigen!

Ihr hattet euch noch nicht gesucht; da
fandet ihr mich. So thun alle Gläubigen, darum
ist es so wenig mit ihrem Glauben.

Nun heiße ich euch, mich verlieren und
euch finden; und erst, wenn ihr mich alle
verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.«

Niemand ist frei, solange er noch an
einem Meister, der nicht er selbst ist,
hängt; wer aber jenes wahre Selbst, dessen
Spiegelbild Nietzsche uns als »Zarathustra«
vorstellt, gefunden hat, der hat Gott und
alles gefunden. Nicht darum handelt es
sich, dass Menschen, die noch nicht fähig
sind, auf eigenen Füssen zu stehen, ihre
Krücken fortwerfen und den Glauben, ihre
Autoritäten verleugnen, sondern man soll
vielmehr darnach trachten, selber zu denken,
selbst zu empfinden, selbst zu erkennen
und schließlich dem Gängelbande zu ent-
wachsen, das die Menschheit in ihrer
Kindheit nöthig hat. Dies ist eine uralte
Weisheitslehre. Der Wahlspruch von
Theophrastus Paracelsus, der sie er-
kannt hatte, war: „Non sit alterius, qui
suus esse potest
“, und es wäre ein Leichtes,
zahlreiche Citate aus der Bibel, der
Bhagavad Gita, aus Thomas von Kempis’
»Nachfolge Christi« und vielen anderen
Mystikern anzuführen, die alle dasselbe
lehren, wenn man sie richtig versteht.
Alle lehren die Aufopferung des Schein-
Selbsts im wahren Selbst, und es ist
nirgends von einer »Entselbstung« in dem
Sinne, wie es Lichtenberger auffasst, d. h.
von einem Aufgehen der Persönlichkeit
in Nichts, sondern vielmehr von einem
Aufgehen des Bewusstseins des wahren
Ichs im persönlichen Bewusstsein die
Rede. Kein wahrer Philosoph wird sich
seines wahren Ichs zu entledigen suchen,
sondern vielmehr bestrebt sein, dasselbe
zu finden und festzuhalten. Um dies zu

begreifen, ist es aber vor allem nöthig,
den Unterschied zwischen der dauernden
Individualität des Menschen und seinem
vergänglichen Selbst, welches als seine
Persönlichkeit (von Persona Maske) be-
zeichnet wird, zu unterscheiden; wie denn
auch der indische Weise Sankaracharya
schon vor zweitausend Jahren lehrte, dass
der Besitz der Fähigkeit, zwischen dem
Dauernden und dem Vergänglichen zu
unterscheiden, die erste Bedingung zur
Erlangung der Selbst-Erkenntnis ist.

Nitýa, anitýa vastu viveka.«)*

Und wir möchten hinzufügen, dass diese
Fähigkeit auch die Bedingung zum Ver-
ständnisse aller Mystiker, und somit auch
zu dem der Nietzsche’schen Schriften ist.

Ehe man diese Schriften beurtheilt
und kritisiert, sollte man sie zuerst ver-
stehen und sich erklären; aber zu einer
theoretischen Auseinandersetzung der darin
enthaltenen Wahrheiten müssten wir tiefer
in das Gebiet der höheren Wissenschaften
eindringen, als es der Umfang dieses
Artikels gestattet, und vor allem die
Doppelnatur des Menschen kennen lernen,
welche ein Dichter, dessen Name mir
leider unbekannt ist, in folgenden Worten
beschrieben hat:

»In jedem Menschen wohnen zwei Naturen:
Die eine ist ein Kind des Tageslichts;
Sie zeigt allüberall der Sonne Spuren,
Da ist nichts dunkel und verschleiert nichts.
Die magst du bis ins Innerste durchschauen.
Du nimmst nichts Fremdes, nimmst kein
Räthsel wahr;
Da herrschen Einsicht, Klarheit und Vertrauen.
Sie ist krystallhell, einfach, sonnenklar.

Die and’re ist wie aus der Nacht entstanden.
Du kennst sie nicht, und niemand misst sie aus;
An ihr wird Prüfung und Verstand zu Schanden.
Sie ist ein fremder Gast im eig’nen Haus.
Ungreifbar wirft sie in die Wirklichkeiten
Ihr flackerndes und irres Schattenspiel,
Wie Träume, die den lichten Tag durchgleiten.
Verwirrt die Fäden und verhext das Ziel.

Wie wenige Menschen gibt es, in
denen die erstere einfache und klare Natur,
die ein Kind des Lichtes ist, zum Durch-
bruch gekommen ist, und die sich in diesem.
Spiegel der Seele selbst und auch andere
Menschen erkennen? Wo ist ein Mensch
zu finden, der die Einfachheit und Klar-

* Sankaracharya: »Tattwa Bodha.« Leipzig. W. Friedrich.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 27, S. 641, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-27_n0641.html)