Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 27, S. 642

Wer ist Zarathustra? Hugo Wolf-Vereine (Hartmann, FranzHellmer, Edm.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 27, S. 642

Text

HELLMER: HUGO WOLF-VEREINE.

heit des Lichtes der göttlichen Weisheit
mehr liebt als das zusammengesetzte
Schauspiel der Phantasie und das Stück-
werk des menschlichen Wissens? Wo ist
derjenige zu finden, dem es nicht viel
mehr um die Befriedigung seiner persön-
lichen Neigungen, Stillung der wissen-
schaftlichen Neugierde, Unterhaltung und
Zeitvertreib zu thun ist, als um Reinheit
und Klarheit der Seele und Ruhe im
Ewigen. Wo ist derjenige angebliche
»Occultist« oder »Theosoph«, welcher
auch nur den ersten Schritt macht, um
sein eigenes, wahres Selbst zu finden, und
wie könnte jemand das wahre Selbst eines
anderen Menschen beurtheilen, wenn er
dieses höhere Selbst nicht einmal in sich
selber erkennt. Deshalb haben auch die
meisten Kritiker, welche solche Menschen
wie Nietzsche, Blavatsky, Böhme u. s. w.
zu beurtheilen unternehmen, nur deren
Schatten gesehen, und weil dieser
»Schatten« oder die »Persönlichkeit« aus
gar vielen Einzelwesen oder »Persönlich-
keiten« zusammengesetzt ist, von denen
bald diese bald jene in den Vordergrund
tritt, so haben sie sich auch nicht damit

zurechtfinden können. Sie haben daß Ge-
fäß für den darin fahrenden Geist, das
Wesen für die Form, das Werkzeug für
den Meister genommen.

Das Werkzeug, welches Zarathustra
benützte, um alte, halbvergessene Wahr-
heiten im Gedächtnisse der Menschheit
aufzufrischen, ist unbrauchbar geworden,
und vielleicht ist der große Geist bereits
aus der Persönlichkeit, welche man Fried-
rich Nietzsche nannte, entflohen; aber
was in Nietzsche das Wesentliche war,
ist seine geistige Individualität, die an sich
selbst von seiner persönlichen Erscheinung
völlig unabhängig ist, wenn sie auch zu
ihrer äußerlichen Offenbarung einen dazu
tauglichen Organismus nöthig hat. Um
Nietzsche zu verstehen, ist es nöthig,
Zarathustra kennen zu lernen, und dieser
wird erst dann erkannt, wenn man sich
selber in Wahrheit erkennt. Es handelt
sich hiebei natürlich nicht um eine in-
tellectuelle, sondern vielmehr um eine —
über das menschliche Begriffsvermögen
hinausreichende — intuitive und geistige
Erkenntnis.

HUGO WOLF-VEREINE.
Von EDMUND HELLMER (Wien).

Wie bereits in Berlin, Wien, Stuttgart
und Prag, hat sich nunmehr auch in
München eine Anzahl kunstliebender Per-
sonen zu einem Vereine zusammenge-
schlossen, der es sich zur Aufgabe macht,
die schwer zugänglichen Schönheiten der
Wolfschen Musik dem Publicum zu er-
schließen.*

Es ist nun vielleicht auf den ersten
Blick nicht leicht einzusehen, weshalb
gerade die Kunst Hugo Wolfs — wenn
sie schon eine echte und wahre Kunst
ist — zu ihrer Propagierung des Vereins-

wesens bedarf. Und umso befremdlicher
muss es auf den Uneingeweihten wirken,
wenn er von dem spontanen Aufblühen
einer verhältnismäßig großen Anzahl von
Vereinen, die, über Deutschland und Öster-
reich verstreut, kaum einen Contact unter-
einander haben, Kunde erhält. Man wird
da mit der Erklärung: die Wolfschen
Compositionen seien so schwer aufzuführen
und noch schwerer zu erfassen, sie seien
so neu und bei aller Schönheit von so
befremdlicher Eigenart, dass sie der
Patronanz bedürften, um bei der All-

* An der Spitze des Vereines, dessen constituierende Versammlung am 22. November l. J.
stattgefunden, stehen M. G. Conrad, Wilhelm Mauke, Max Schillings, Bernhard Stavenhagen
und Wilhelm Weigand.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 27, S. 642, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-27_n0642.html)