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so sehr schlimm in dieser Zeit gewesen
sein konnte.
Was aber die Mystik angeht, die auch
ich — wie schon gesagt — für die beste
Auffassung des Christenthums halte, so
findet sie sich bei Romanen zum min-
desten ebenso stark entwickelt, wie bei
Germanen. Mir scheint überhaupt, dass
der Geist des Germanen eher ein rea-
listischer war, der also für Politik, für
Waffenthaten, kurz: für das Leben gut
geeignet war, ähnlich wie bei der indischen
Kriegerkaste.
Dass viel eher der Protestantismus
eine weltliche Gesinnung bewirkt und sich
mit einer flachen Biedermanns-Moral be-
gnügt, ist nicht schwer zu zeigen. Auch
Schopenhauer sagt das. Wenn hingegen
ein Katholik durch die in seiner Kirche
üblichen Mittel (Keuschheit, Fasttage etc.)
asketisch geworden ist, wird es ihm ver-
hältnismäßig leicht werden, innere Fort-
schritte zu machen — trotz der scheinbar
äußerlichen Mittel. Auf den Geist kommt
es an, mit dem man eine Sache ergreift.
Solche Figuren, wie z. B. den heiligen
Johannes vom Kreuze oder den heiligen
Vincenz von Paul, wird man nur in der
katholischen Kirche finden. Wenn solche
große Mystiker da möglich sind, kann
das System nicht so ganz schlecht sein.
Ich will eine Probe der Weisheit des
ersteren geben, damit jeder Unbefangene
sich überzeugen kann, dass hier die wahre
Verinnerlichung im Geiste Jesu vorliegt:
»Der Wert der Liebe besteht nicht
darin, dass der Mensch große Dinge unter-
nehme, sondern in der Blöße und im
Leiden aller Beschwerden für seinen ge-
liebten Gott. — Gott suchen in sich selber
heißt: sich jedes Trostes um ihn berauben
und sich befähigen, sowohl in göttlichen
als in weltlichen Dingen das Unbehaglichste
zu erwählen, das heißt: Gott lieben. —
Die Seele, welche von Liebe eingenommen
ist, wird nicht müde und nicht verdrieß-
lich. — Der Gott wahrhaft liebt, schämt
sich vor der Welt nicht um der Werke
willen, die er aus Liebe zu Gott thut,
und hält nicht aus Scham damit zurück,
wenn auch alle Welt ihn darob verdammt.
— Bedenke, dass Gott nur in einer fried-
lichen und uneigennützigen Seele regiert.
Es ist nicht Gottes Wille, dass die Seele
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sich über etwas betrübe und Beschwerde
leide. Was man unter den Unfällen der
Welt leidet, rührt von der Schwäche der
eigenen Tugend her; denn die Seele des
Vollkommenen freut sich über das, worüber
sich die unvollkommene betrübt. — Die
Weisheit geht ein mittels der Liebe, des
Stillschweigens und der Abtödtung. Es
ist große Weisheit, zu schweigen und zu
leiden wissen und nicht zu merken auf
die Reden, Handlungen und das Leben
des Nächsten«.
Soweit der spanische Mönch, der zu-
gleich einer der tiefsten Dichter war, jeden-
falls tiefer als irgendein Dichter, den der
Protestantismus hervorgebracht hat. Glaubt
Herr Chamberlain, dass solcher Geist bei
den mittelalterlichen Germanen die Regel
gewesen wäre? Nein! Für die damaligen
Menschen ebenso wie für die heutigen
ist eine exoterische Lehre nöthig, die
durch eine sichtbare Kirche voll Autorität
übermittelt wird. Man kann einem stumpf-
sinnigen Bauer nicht Kants »Kritik der
reinen Vernunft« statt des Thomas
a Kempis in die Hand geben. Die Esoterik
ist nur für wenige. Ebenso ist es mit der
Philosophie des heil. Thomas. Sie ist mit
ihrem naiven Realismus für den Haus-
gebrauch geeigneter als Kant.
Gestern zeigte mir mein Dienstmädchen
eine geweihte Medaille mit dem Bilde
eines Heiligen. Sie wäre gut, sagte sie,
gegen Zahnschmerz. Sie hätte es selbst
erprobt. Sie sei einmal, als sie starkes
Zahnweh gehabt habe, zum Geistlichen
gegangen, und der habe ihr den lateini-
schen Special-Segen gegeben; sie habe in
die Medaille beißen müssen (oder war es
eine Reliquie?), und der Schmerz wäre
sofort vergangen. Sie bete auch jeden
Sonntag während der Messe eine Anzahl
»Vaterunser« in dieser Intention. »Welch
ein Aberglaube!« wird man sagen. Sachte,
sachte! Nicht allein, dass solche Heilungen
von glaubwürdiger Seite bezeugt sind,
kommt es in Wahrheit ganz auf dasselbe
heraus, ob ich die Sache exoterisch oder
esoterisch erkläre. Ob ich sage, der Mensch
schöpft durch eine Gewaltanstrengung
seiner höheren Natur, d. h. des höheren
Seelenvermögens (indisch »Buddhi«), die
schlummernden Kräfte, welche dann auch
auf den Körper wirken und ihn beein-
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