Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 7

Die Kaiserin Aus ihrem Tagebuche : Ein December-Abend (Khnopff, FernandAltenberg, Peter)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 7

Text

ALTENBERG: EIN DECEMBER-ABEND.

Flanell und weiße Wollstutzelchen für
die Handgelenke.

Immer muss heißes, sanft mur-
melndes Wasser vorhanden sein, um
sogleich lichten Thee zu machen; und
Citronen und Orangen sammt Holz-
presse für heiße Limonade.

Es ist angenehm und freundlich,
sich Sommerhitze zu verschaffen von
außen und innen, während der Winter
in der Landschaft wüthet und die Ebene
bedrängt.

Gehe hinaus aus deinem süßen
Sommerraume wie in ein Schwimm-
bad, tauche in die Eiseslüfte, lasse den
Wind wie kalte Brause wirken, die
den Athem verschlüge!

Aber genieße es wie ein Sommer-
bad, herein, heraus, ehe du bebst und
weinen möchtest!

Und rasch zurück in deinen Zimmer-
Sommer.

Schon duftet der liebliche Thee und
das Öfchen brennt lautlos und meine
blonde Freundin sitzt nachdenklich, wie
Menschen auf Gartenbänken an lauen
Sommerabenden.

Ich sitze bei ihr.

Dann sage ich: »Maria, was haben
Sie eigentlich für eine Meinung über
diese Menschen in dem Künstler-Café?!«

»Ich vermuthe, es wären ziemlich
unentwirrbare Menschen, nicht?!«

»Ja, Maria, das vermuthe ich gleich-
falls. Finden Sie nicht, dass die meisten
gespannte Züge besitzen?! Aber man
müsste ganz glatte Züge haben, wie
ruhig Schlummernde oder schlendernde
Spaziergänger! Gespannte Züge auf
dem Antlitze sind wie Elastikbänder
vor dem Reißen, Dampfkessel vor dem
Bersten, nicht?!«

Meine Freundin sagte: »Die
Menschen überhaupt complicieren sich
alles. Mehr verstehe ich nicht davon.
Aber sie complicieren es sich.«

»Ja, Maria. Alles überhaupt compli-
cieren sie sich, verstehen nichts zu durch-
schauen, zu entwirren, verstricken sich in
sich selbst, fangen sich in ihrem eigenen
Netze, verlieren die Möglichkeiten.«

»Man muss es sich vereinfachen,«
erwiderte Maria, »sonst könnte man
schwer durchkommen.«

Stille.

Dann sagte meine Freundin: »Und
der Dichter?! Was wäre es mit
diesem?!«

»Dieser?! Wer ihn ernst nimmt,
geht irre. Wer ihn nicht ernst nimmt,
geht irre. Ja, so ist es.«

»Wie meinen Sie es?!«

»Man könnte es sich vorstellen,
dass alle, alle Dinge bedrängt und
verkümmert wären durch andere un-
entrinnbare Dinge, welche einmal sind
und wirken! Wie würde eine Pflanze,
ein Thier sich entfalten, wenn sie nicht
von der Schwerkraft bedrängt würden,
der Mensch von seinen Verdauungs-
thätigkeiten und anderen Dingen?!

Der Dichter nun, Maria, scheint
irgend etwas in sich zu haben, was
der allgemeinen Schwerkraft und dem
fatalen Gesetze nicht unterläge. Ich
glaube, es sind die Ekstasen seiner
Seele, die ihn hinüberbringen über das
Schwere. Und indem er selber un-
bedrängt dahinlebt, spürt er desto
deutlicher die Bedrängnisse der anderen.

Wie wenn einem Akrobaten, welcher
frei wäre von Muskelschwere, plötzlich
die armselige Haltung der Menschen
auffiele, ihre Pappendeckel-Knie und die
harten Rückenwirbelchen. Allen möchte
er es beibringen, in der Hüfte den
Oberkörper zu tragen, wie Binsen auf
dem Teiche steh’n, schwankend gleich-
sam vor Beweglichkeiten. Viele Dinge,
Maria, sind in uns, welche noch un-
entwickelt sind. Vielleicht gäbe es
Frauen, welche ihre Mission erfüllten,
wenn sie splitternackt auf hohen Sesseln
säßen und von Lebenspilgern sich die
Zehen berühren ließen mit den müden
Lippen. Und andere, welche nur stumm
blickten, und alle würden sanft und
weise um sie herum und kämen zu
sich selbst und ihrem Frieden!

Wir aber, Maria, gedeihen in lauer
Wärme und die Hitze der Ekstase
müsste uns schädigen. Wir müssen
uns bescheiden. Denn wir wollen leben
im Leben, welches ist!

Wir brauchen Träumerische nicht,
allzu Befreite. Doch wenn sie uns nahen,
mögen wir milde sein und ihnen
lauschen! Von Dingen, meine Freundin,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 7, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-01_n0007.html)