Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 10

Die Kaiserin Rossetti* Fünf Sonette (Khnopff, FernandLindner, AntonRossetti, Dante Gabriel)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 10

Text

ROSSETTI: FUENF SONETTE. GEBURT DER LIEBE.

Wie eine Mutter selig, deren Schooss
Die Frucht, die er gehegt, endlich gebar,
War meine Herrin, als sie ganz gewahr
Der Liebe wurde, die sie lang umschloss.

Von ihrem Blut genährt — gieriger Spross —
Ihr Sein gefährdend, selber in Gefahr,
Wuchs sie und regte sie sich unsichtbar
Und riss zuletzt sich aus der Enge los.

Nunmehr, zu voller Kraft entfaltet, wählt
Sie Zeit und Ort für unsern Bund und schmückt
Mit eigner Hand das Lager, das uns eint —

Bis wir dereinst, zwei Schatten, noch vermählt,
Ihr wiederum entgleiten und, entrückt,
Uns noch ein Strahl aus ihrem Kranz bescheint.

HOCHZEITSSCHLAF.

Zuletzt lässt Mund von Mund mit süsser Pein.
Und wie der Regen, wenn er inne hält,
In jähen Einzeltropfen niederfällt,
So schlägt nun stockend jedes Herz allein.

Doch bleiben sie, die also sich entzwei’n —
Ermattend, schon von Lechzen neu geschwellt —
Leib gegen Leib, eng wie zuvor gesellt,
Als hätten beide einen Stamm gemein.

Schlaf taucht sie tiefer als in Traumesruh
Und hält sie schwer in seiner Flut versenkt.
Dann sacht, auf Dämmerglanz, vom tag versprengt,

Schwimmen die Seelen dem Erwachen zu,
Bis Er — in fremde Wunder noch entrückt —
Sie findet, seliger von Ihr entzückt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 10, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-01_n0010.html)