Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 13

Die Kaiserin Richard Wagner und das französische Publicum (Khnopff, FernandMauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 13

Text

MAUCLAIR: WAGNER UND DAS FRANZÖSISCHE PUBLICUM.

symphonischen Kunst streng abgeschlossen
hatten. Lamoureux gewöhnte sie schritt-
weise daran, und man kann sagen, dass
er der Seele des Pariser Publicums eine
bis dahin ungeahnte Poesie und Ekstase
erschloss. Als er sein Unternehmen fest
genug gegründet glaubte, fieng er an, den
Namen Wagner in seine Programme auf-
zunehmen.

Diese Aufnahme schuf sogleich fre-
netische Kämpfe, die vor kaum drei Jahren
erloschen sind.

Man muss bei dieser Empörung des
Publicums zwei bestimmte Momente unter-
scheiden und die Frage des Chauvinismus
und des Hasses gegen Deutschland sofort
beiseite lassen. Es ist klar, dass die übrigens
sehr mittelmäßigen satirischen Schriften,
die Wagner im Jahre 1870 veröffentlichte,
alle Chauvinisten und viele Musikfreunde
gegen ihn einnahmen, die bereit waren,
sein Genie anzuerkennen. Doch ebenso
wahr ist es auch, dass der Geist, mit
welchem das ganze Schaffen Wagners
durchsetzt ist, dem französischen Publicum
im höchsten Grade antipathisch ist. Man
muss die Gründe zuerst darin suchen,
dass das Wagnerwerk hervorragend zu-
sammenhängend und synthetisch ist, und
dass es sehr schwierig ist, ein mit der
Sache nicht vertrautes Publicum, das nur
herausgerissene Fragmente in einem Con-
cert hört, zu seiner besonderen Technik
und seinen Methoden der Orchestrierung,
sowie zu seinen außergewöhnlichen Be-
ziehungen zwischen der Idee und der
Harmonie heranzubilden. Es ist leicht,
eine Sängerin in einem Act der italie-
nischen Oper zu hören, weil die italie-
nische Oper eine zerhackte Handlung und
eine Reihe von Melodien besitzt, die
einzeln vorgetragen werden können, und
weil sie der Stimme die erste Stelle ein-
räumt. Die Wagnerkunst dagegen verleiht
dem Orchester das Übergewicht, ver-
urtheilt den Schauspieler zur Rolle des
im Ensemble Mitwirkenden und geht von
einer Gesammtheit abstracter Ideen aus,
die von Anfang bis zu Ende des Dramas
ohne Unterbrechung durch die Leitmotive
ausgedrückt werden. Es ergab sich daraus
eine tiefe Bestürzung und die Umwälzung
aller Gewohnheiten des Zuhörers, der mit
den zerhackten Melodien vertraut war.

Außerdem drücken die mystischen Legenden
die deutsche Sinnesart so intim aus, dass
man sich zuvörderst durch eine Lectüre
daran gewöhnen muss. Die philosophischen
Ideen, die sie enthalten, sind ebenfalls
getrennt zu studieren. Im allgemeinen kann
man sagen, dass sich die italienische Oper
jedermann durch eine lebhafte Sinnlichkeit
aufdrängt, während die Kunst Wagners,
um verstanden zu werden, eine hohe
geistige Cultur verlangt. Wer darin nur
Opernfiguren sieht, verkennt ihre wahre
Bedeutung, und diese Kunst, die die vor-
hergehende Kenntnis aller andern verlangt,
wäre zweifellos der Cultus einer sehr
kleinen Vereinigung von Denkern und
Gelehrten geblieben, wenn die tiefe nervöse
Erregung, der geheimnisvoll berückende
Magnetismus der Wagner-Symphonie nicht
auch diejenigen unterjochte, die den ge-
heimen Sinn des Werkes zuerst nicht
verstehen. Ferner verlangt die Sinnlichkeit
des »Tristan« eine tausendmal feinere
und zur reinen Intelligenz sich erhebende
nervöse und melancholische Organisation,
als die, welche hinreicht, um von der
verliebten Mattigkeit oder Lebhaftigkeit
der italienischen Melodien bezaubert zu
werden.

Endlich hat das französische Publicum
eine heftige Abneigung gegen alle Symbole,
sobald es bemerkt, dass es Symbole sind.
Jede Realität in der Kunst ist das Symbol
einer Idee; doch das Publicum, das sich
von dem Scheine täuschen lässt, will das
nicht zugeben. Die Tetralogie bleibt trotz
der zahllosen Zeitungsartikel und Notizen
der Concert-Programme ein noch dunkles
Räthsel in den Augen vieler Leute, die
wohl die hohe Magie der Wagner’schen
Harmonien bewundern, sie im Concert
beklatschen, sich aber den Kopf zerbrechen,
um Mime von Fafner zu unterscheiden
oder in die verwickelten Verwandtschaften
Siegfrieds einzudringen. Diese abstracte
Intrigue, diese Menge sinnbildlicher Per-
sonen, dieser Dualismus der göttlichen
und menschlichen Familie werden nur
mit großer Mühe verständlich, besonders
in den Übersetzungen. So waren die Über-
tragungen Wilders in sentimentalen Versen
von italienisiertem Geschmack und schauer-
lich weichlich abgefasst. Die späteren, von
dem ernsthaften und bedeutenden Kritiker

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 13, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-01_n0013.html)