Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 21

Die Kaiserin Die Naturheilbewegung (Khnopff, FernandWachtelborn, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 21

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WACHTELBORN: DIE NATURHEILBEWEGUNG.

andere aus. Wir können die verdienstvollen
Männer, die am Ausbau der Naturheil-
bewegung rühmlichen Antheil genommen,
hier nicht alle nennen; es sind ihrer viele
gewesen. In erster Linie sei aber des jetzt
noch (in Veldes, Krain) wirkenden genialen
Rikli gedacht, der das Licht an die Seite
des Wassers und den Menschen wieder
unter den Einfluss des Lichtes stellte. Die
Sonnenbäder, die zum Ausgangspunkt der
jetzt sehr verbreiteten Lichtbäder wurden,
sind seine Erfindung. Ferner nennen wir
den streitbaren Hahn (einst auf der Waid
bei St. Gallen), der besonders auf dem
Gebiete der Diät reformierend wirkte,
und aus neuester Zeit den bekannten
Pfarrer Kneipp. Alle diese Männer waren
»Laien« — und von Laien, vom Volke
wird in der Hauptsache auch heute noch
die von ihnen geschaffene Bewegung
getragen. Groß ist diese geworden. In
Deutschland allein zählen ihre organisierten
Mitglieder weit mehr als hunderttausend,
während sie in der ganzen Welt an
Anhängern viele Millionen besitzt. Die
Zahl ihrer Zeitschriften (mit Auflagen
bis zu 100.000) beträgt mehr als 30 —
und an öffentlichen Vorträgen werden
in Deutschland allein alljährlich tausende
gehalten.

Dass eine so mächtige und rege Be-
wegung immer größere Kreise ziehen und
mit ihrem Einfluss auch die verschiedensten
anderen Gebiete durchdringen muss, ist
leicht zu verstehen. Am meisten werden
hiervon natürlich die ihr zunächst liegenden
getroffen, die Heilkunde und die Gesund-
heitspflege. Mit ersterer wollen wir uns hier
nicht besonders beschäftigen, sie gehört
in andere Blätter; auch wären darüber
Bände zu füllen, wie es bereits vielfach
geschehen ist. Aber schon hat sich die
medicinische Wissenschaft entschlossen,
für den in der Naturheilbewegung in
erster Linie zum Ausdruck kommenden
Gedanken: Heilung durch rein natürliche
Kräfte, eigene Blätter und Lehrstühle zu
gründen; Wien kann sich rühmen, bereits
aeit Jahren den ersten Lehrstuhl für
physikalische Therapie (Naturheilverfahren)
in seinen Mauern zu wissen. Deutschland
folgt jetzt nach. Welchem Umschwung

die medicinische Wissenschaft hiermit
entgegengeht, wird diese selbst sehr bald
mit Staunen erkennen.

Auf dem Gebiete der Gesundheits-
pflege ist der Einfluss der Naturheil-
bewegung nicht bloß ein hygienischer,
sondern auch ein tief eingreifend cultureller.
Sie verlangt neben Licht und Luft vor allem
Wasser, also Hautpflege. Da ist es nun
noch nicht gar lange her, dass in Deutsch-
land je 30.000 Einwohnern eine einzige
Badeanstalt zur Verfügung gestanden.*
Wie oft mag da wohl die Haut der
meisten Menschen mit Wasser in Be-
rührung gekommen sein? Zweimal. Bei der
Geburt und beim Tode. Und welche Krank-
heiten mögen hier allein schon dadurch
entstanden sein, dass mit der ungepflegten
Haut der ganze Körper verkümmerte?
Denn Störungen der Stoffwechsels und
des Kreislaufes sind die nothwendigen
Folgen einer verwahrlosten Haut. Die
Naturheilbewegung hat Wandel ge-
schaffen. Wie die Pilze nach dem Regen
sind Badehäuser und Naturheilanstalten
in neuerer Zeit aus der Erde geschossen.
Wir stehen zwar nicht gerade auf dem
Standpunkte der Engländer, die da sagen:
Reinlichkeit ist Gottseligkeit. Sicher ist
sie jedoch ein wichtiger Gradmesser für
Cultur. Reinlichkeit an sich und um sich
beseitigt auch viel seelischen Schmutz, und
wo dieser schwindet, zieht Besseres ein;
denn es gibt keine Leere im Raum. Durch
Reinlichkeit wird die Lage der Menschheit
überhaupt gehoben. Plinius schreibt:
Das badende Rom bedurfte durch sechs
Jahrhunderte keines Arztes. Die Naturheil-
bewegung hilft uns, demselben Ziele ent-
gegenzutreiben. Der Grund ist gelegt. An
uns ist es, weiterzubauen. Aber Rom
hatte zur Zeit Constantins nicht weniger
als 856 (achthundertfünfzig und sechs)
Volksbäder, abgesehen von den vielen
privaten Baderäumen, deren jedes bessere
Haus besaß. Wann werden wir dahin
gelangen? Heute brauchen wir das Geld
für Kasernen.

Der Mensch soll aber auch reine Luft,
Licht, Sonnenlicht genießen. Die Luft ist
in einem gewissen Sinne seine Nahrung,
das Sonnenlicht sein Leben. In unseren

* Lassar: Volksbäder 1889.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 21, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-01_n0021.html)