Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 24

Die Kaiserin Philharmonische Concerte (Khnopff, FernandGraf, Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 24

Text

GRAF: PHILHARMONISCHE CONCERTE.

lischen Empfindens einer Generation tief
eingreift. Es ist selbstverständlich, dass
ein moderner Künstler von so bedeutender
und blendender Subjectivität, wo immer er
neu anpackt, die Dinge verrückt und in unge-
wohnte Perspectiven stellt. Ebenso ist es
selbstverständlich, dass die conservativen
Geister nur diese »Verrückungen« und
nicht die neuen Perspectiven empfinden.
Um letztere allein soll es sich hier
handeln.

Wir ehren jene Männer, die — inner-
lich bewegt und mit seelischem Reichthum
begabt — im Strome der Dinge stehen.
Für diese Naturen verschieben sich die
Grenzen der Dinge. Aus ihrer eigenen seeli-
schen Bewegtheit heraus bewegen sie die
Gegenstände der Welt, geben ihnen neue
Verhältnisse und Perspectiven. Nicht nur
die Gegenwart zeigt sich ihnen fließend, als
von neuen Kräften getrieben, sondern
auch die Vergangenheit als ein Lebendes,
das aus den höchsten Kräften der Gegen-
wart heraus empfunden werden muss.

Diese Aufgabe erfüllt Gustav Mahler
in den philharmonischen Concerten. Er ist
eine moderne Natur, ein Künstler der Gegen-
wart, von deren Energien bewegt. Für
einen derartigen Menschen existieren nicht
die Begriffe Tradition, Stil, Classicismus
und wie alle Lügen derer lauten, die als
lebende Leichen Kunst genießen. Für ihn
sind alte Kunstwerke nicht fixe Ideen, die
unberührbar starr im ewigen Raum stehen.
Sein Gefühl sagt ihm, dass man als Mensch
von heute nur aus dem intensivsten Gefühle
der Gegenwart heraus die Kunst anderer
Zeiten deuten darf, soll sie selbst ein
wirkendes und gegenwärtiges Dasein führen.
So wird ihm alles, was anderen fixe Idee
ist, zum Problem; wo andere den Gesetz-
mäßigkeitsgötzen verehren, fängt bei ihm
erst der Zweifel an. Und da er an jede
Partitur mit dem Gefühle des stärksten
Lebens herantritt, lehrt er die übrigen,
dass sich die Werte jeder Zeit verschieben,
jede künstlerische Welt aus einer neuen
Gegenwart wiedergeboren werden muss,
und dass die Kunst mit den Wandlungen
der Seele und des Lebens neue Bedeutun-
gen erhält.

Als Wagner im Jahre 1846 in einem
Dresdener Concerte die 9. Symphonie von
Beethoven aufführte, war alles darüber
erstaunt, dass plötzlich ein Mensch Beet-
hoven’sche Musik mit anderen Ohren hörte,
als seine Zeitgenossen. Noch bevor die
größten Werke Richard Wagners ge-
schrieben waren, wurde schon in dieser
Beethoven-Aufführung klar, dass ein Mann
mit einer neuen Gefühlswelt, die gegen-
über der früheren große Veränderungen,
Nuancierungen, Schattierungen aufwies,
an die Welt Beethovens herantrat, und
aus dieser neuen Psyche heraus die Werke
Beethovens anders empfand Die
Beethoven-Aufführungen Gustav Mahlers,
die der conservative Hörer als affectierte
Verzerrung empfindet, zeigen, dass die
Gefühlswelt der modernen Künstler neue
Verschiebungen, Wandlungen, Gruppierun-
gen erfahren hat, die sie bereits wieder
von der seelischen Constitution der Welt
Richard Wagners unterscheidet. In solchen
Aufführungen wird, noch bevor die neuen
Seelen ihre autochthone musikalische Kunst
geschaffen haben, offenbar, welche großen
Veränderungen im psychischen Haushalt
des modernen Menschen vor sich gegangen
sind.

Ein solches Kunstempfinden verbürgt
die Fruchtbarkeit einer Zeit. Wenn man
anfängt, eine Kunst als »classisch« zu
empfinden, kam man sicher sein, auf
träge und absterbende Geister zu stoßen.
Nur dort, wo aus dem neuen Vermögen
der Gegenwart eine alte Kunst als mit-
lebend gefühlt wird, darf man hoffen,
Fortschritt und Bewegung zu finden.
Noch eines wird aus den Beethoven-
Aufführungen Gustav Mahlers klar: dass
Beethoven durch alle Wandlungen der
Geister, der Moden, Stile und Empfindungen
als Still-Lebendiger mitgeht, und selbst
über die Schöpfung neuer, grandioser
künstlerischer Welten — wie es jene
Wagners war — hinweg zu neuen Gene-
rationen schreitet, nicht als classische
Pagode, sondern als Vorkämpfer und Streit-
genosse.

Wird in den Aufführungen der Phil-
harmoniker Beethoven gleichsam aus den
Melancholien, Kämpfen und seelischen
Krisen des Menschen von heute heraus
neu geboren und mit demselben verknüpft.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 1, S. 24, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-01_n0024.html)