Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 31

Farbe und Linie II. (Lindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 31

Text

FARBE UND LINIE.
Ein Versuch
Von ANTON LINDNER (Wien)
II.

Die weit ausladenden Untersuchungen,
was eigentlich in die Kategorie des
Schönen, absolut Schönen, noch Schönen,
nicht mehr Schönen gehöre und nicht
gehöre, oder die infalliblen Rescripte, die
kund und zu wissen thun, dass aus
den Elementen α, β, γ, δ in ent-
sprechender Confusion der ästhetische
Eindruck π resultieren müsse, haben füg-
lich selbst in gelehrten Cirkeln nur noch
antiquarisches Interesse. Über »schön«
oder »nicht schön«; regen wir uns heute
nicht auf. Es gibt erbaulichere Dinge
zwischen Himmel und Erde. Nur wenige
Fischhändler im deutschen Mittel-Europa
brüten auch heute noch ernsthaft auf
ausgeblasenen Eiern. Zeigt man ihnen
mit langem Finger die kleine Wolke hoch
oben, die frei von Fett und Schwere
zwischen Sonnenstrahlen dahinhuscht und
aller Sesshaftigkeit spottet, und fragt man
mit respectierlichem Gestus:

Seht ihr die Wolke dort, beinah’ in Gestalt
eines Kameels? —

dann heben sie den nackten Kopf,
der in den trockenen Charnieren knarrt,
ängstlich von ihrer Tischkante auf und
betheuern mit einer Stimme, die wie das
Rascheln von Spänen klingt:

Bei der Messe! Sie sieht auch wirklich
aus wie ein Kameel!

Mich dünkt — antwortet man — sie
sieht aus wie ein Wiesel!

Sie hat — raschelt es zurück — einen
Rücken wie ein Wiesel!

Oder — antwortet man — wie ein
Walfisch?

Ganz — raschelt es zurück — wie
ein Walfisch!

Nur nach diesem und keinem anderen
Schema sind Dispute, Repliken und

Dupliken über das Schöne und minder
Schöne heute noch denkbar. Darum
müsste die Aufgabe einer modernen
Ästhetik just eigentlich dort erst beginnen,
wo die Formalisten alter Fechsung —
Robert Zimmermann in Verehrung aus-
genommen! — die Papierbolzen in den
Sand werfen und ihre Mission damit be-
endet glauben. Nach Dem aber, was in
aestheticis
uns heute überhaupt noch in-
teressieren kann, nach modernen Er-
klärungsversuchen kunstpsychischer Phäno-
mene, wird man in den meisten Com-
pendien nur vergeblich fahnden, denn
dergleichen Probleme werden in der
Regel a priori mit und ohne Ignorabimus
selbst heute noch unter den Tisch ge-
schoben. Betrachtet man aber die Weni-
gen, die derlei ausnahmsweise zu deuten
wagen, dann zeigt es sich recht bald,
dass die gesammte Kunstphilosophie —
— insonderheit auch Fechner — an dem
historischen Respect vor dem associa-
tiven Factor festhält.

Heute darf man wohl anders denken.
Heute darf man, wie meine Ausführungen*
zum Theil ergaben, an eine psychische
Unmittelbarkeit der Linien- und
Farbenwirkung glauben, die im Gegen-
satz zu der bisherigen Ästhetik auch
ohne associativen Hilfsfactor verständ-
lich wird. Denn heute darf man
vor allem fordern, dass die innere
Cultur den innerlich freien Menschen
der knechtenden Gewalt seiner Associa-
tionen möglichst entrücke. Wer sich der
umprägenden Macht des äußeren Milieus
wirksam entgegenstellt und den »Kampf
mit dem Object« erfolgreich besteht, wird
schließlich durch graduelle Selbstzucht

* Vergl. »Farbe und Linie«, Artikel I, »Wiener Rundschau« Nr. 1 vom 1. Jänner 1900,
Seite 2 ff.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 31, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-02_n0031.html)