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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 37

Text

DIE ANORMALEN.
Von ENRICO FERRI (Fiesole).

Wenn man die Existenz einer Sache
zum erstenmale erfährt oder bemerkt,
so fällt man stets der Illusion anheim,
diese Sache habe vorher nicht existiert,
und diese Illusion erzeugt stets übertriebene
Schlussfolgerungen.

Die Mikroben haben vor Pasteur sicher-
lich existiert, doch wie vielen Leuten haben
die wunderbaren Entdeckungen der Mikro-
biologie eine übertriebene Angst vor den
Mikroben eingeflößt, gerade als wenn die-
selben erst seit der mikroskopischen Technik
existierten, die sie unseren Augen enthüllt
hat. Und so ist man zu einer wahren Mikro-
biophobie gelangt — der Luft und
dem Staub gegenüber, den man ein-
athmet, dem Wasser, das man trinkt,
den Briefmarken, die man auf die Briefe
klebt. In Wahrheit sind die Mikroben, als
sie erst einmal bekannt waren, immer
weniger furchtbar geworden, denn man hat
gefunden, dass es auch eine große Anzahl
von wohlthätigen Mikroben gibt, und dass
man bei den schädlichen Mikroben Regeln
der Vorbeugungsmethode zur Anwendung
bringen kann, die viel nützlicher und wirk-
samer sind, als jede blinde Therapeutik oder
posthume Unterdrückung. So muss man
sich denn schließlich an den Gedanken
gewöhnen, dass unser Körper stets und
überall von allen möglichen Mikroben
durchsetzt und behaftet ist, dass ihre
morbigene Thätigkeit das Ergebnis mehr
oder weniger günstiger biologischer Be-
dingungen der Kraft oder Schwäche unseres
Körpers ist, der je nach den näheren Um-
ständen in dem Kampfe um die Gesund-
heit bei dem heftigen Angriff oder dem
tückischen Eindringen der schädlichen
Mikroben Sieger oder Besiegter bleibt.

Dieselbe Erscheinung zeigt sich an-
lässlich unserer Kenntnisse der anor-
malen Individuen: Verbrecher, Entartete,
Schwachsinnige, Genies, Verrückte, Fa-
natiker, Conträr-Sexuelle, Selbstmordcandi-
daten, zeitweise Gestörte, Jähzornige u.s.w.

u. s. w. Es sind dies Makroben, gegen die
man nach den in der zweiten Häfte des
XIX. Jahrhunderts von den Psychiatern,
den Neuro-Pathologen, den Anthropologen
(von Morel bis Lombroso) entworfenen
wissenschaftlichen Schilderungen eine über-
triebene Abneigung, Hass und Angst gefasst
hat.

Man hatte wohl in der alten Geschichte
und in der des Mittelalters von den Extra-
vaganzen dieses oder jenes großen Mannes,
dieses oder jenes römischen Kaisers, wie:
Nero, Heliogabalus, Caracalla u. s. w. ge-
lesen; man hatte von den Epidemien des
Wahnsinns oder des Fanatismus, von mehr
oder weniger blutigen Attentaten gehört.
Doch das alles blieb nur im Zustande
einer oberflächlichen Erinnerung nach ober-
flächlichen Anecdoten, nach dem Muster
der seltsamen und stets wechselnden Costüme
der Mode, oder man beschränkte sich auf
die angebliche Erklärung der Thatsache
als ein Spiel der Natur, ein „lusus naturae“.

Doch als die Experimental-Methode
auch beim Studium der moralischen
Monstrositäten, in ihren organischen
und psychischen Charakteren, und auch
beim Studium des anormalen Menschen
zur Anwendung gelangte, da hatte man
den Eindruck von der neuen Existenz
einer Sache, die man vorher nicht einmal
vermuthet hatte. Und nach der unver-
meidlichen Opposition des Misoneismus
gegen die Beobachtungen der Psycho-
Pathologie und criminalistischen Anthro-
pologie — die man schon durch die
Macht der üblichen Syllogismen vernichten
zu können geglaubt —, begann das öffent-
liche Bewusstsein zwei Begriffe zu unter-
scheiden: den normalen Menschen (der
an den Durchschnittsmenschen Quetelets
erinnert) und den anormalen Menschen.
Das alles ist so ziemlich positiv und
genau. Phantastisch und übertrieben aber
ist das voreilige Urtheil, das man daraus
gegen alle Anormale ohne Unterschied

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 37, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-02_n0037.html)