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gefällt hat. Und da man z. B. ganz
ähnliche organische und psychische Anor-
malitäten ebensogut bei Verbrechern und
Wahnsinnigen, wie bei genialen Menschen
und politischen und socialen Neuerern fest-
gestellt hat, so glaubte die öffentliche
Meinung daraus einerseits für die syste-
matische Ausrottung der Verbrecher und
Neuerer stimmen zu müssen, weil sie anor-
mal sind, wobei sie sich andererseits anzu-
erkennen sträubte, dass gerade die genialen
Menschen anormal sind.
Ich war vor einiger Zeit bei Lom-
broso in Turin, und wir sprachen von
den letzten Publicationen der Anthropo-
logie und Anthropo-Sociologie, mit der
ich mich gleich beschäftigen werde, als
man ihm eine ziemlich — amerikanische
Depesche brachte. Der »New-York Herald«
bat nämlich unter Beifügung eines hohen
Checks um eine lange telegraphische Ant-
wort auf die Frage: »Was versteht man
unter einem normalen Menschen?« Die
Frage war gut gewählt, und man dis-
cutierte sie damals auf dem andern
Ufer des Atlantischen Oceans sehr stark,
und zwar anlässlich eines Aufsehen er-
regenden Mordprocesses, der die Tages-
presse veranlasste, die in den Atlanten
des »Verbrechers« von Lombroso und in
meinem »Omicidio« veröffentlichten Ver-
brecherporträts zu reproducieren. Die
Antwort Lombrosos muss die Erwartung
der »New-York Herald«-Leser etwas ent-
täuscht haben, denn statt einer schmeichel-
haften Schilderung der Tugenden und bio-
socialen Vorzüge des normalen Menschen
gab man eher ein Bild negativer und un-
fruchtbarer Charaktere: Guter Esser und
ordentlicher Arbeiter, Egoist, Gewohn-
heitsmensch und Misoneist, geduldig jede
Autorität achtend, Hausthier, »fruges con-
sumere natus«, wie das lateinische Wort
sagt Das ist ungefähr die Beschreibung,
die Victor Hehn von dem »Philister«
liefert. »Ein Product der Gewohnheit, dem
es an Phantasie mangelt, vernünftig, mit
allen Tugenden der Mittelmäßigkeit ge-
schmückt, führt er, dank der Mäßig-
keit seiner Ansprüche, ein ehrenhaftes
Leben, begreift langsam und schleppt mit
rührender Geduld die ganze Last der Vor-
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urtheile mit sich herum, die er von
seinen Vätern ererbt hat«.
Was den ersten der beiden symbo-
lischen Begriffe anbetrifft, so sind wir weit
von dem Ausgangspunkt entfernt, der die
leitende Idee in der großen Theorie Morels
über die Entartung bildete. In seinem
»Traité des dégénerescences« (Paris 1857),
in dem Behauptungen religiöser Ortho-
doxie ein recht merkwürdiges Gemisch
mit den genialsten Intuitionen und wissen-
schaftlichen Entdeckungen bilden, schreibt
Morel: »Die Existenz eines ursprünglichen
Typus, den der menschliche Geist im Ge-
danken als das Meisterwerk und das
Resumé der Schöpfung darzustellen
sich gefällt, ist ein mit unseren Glaubens-
anschauungen derart übereinstimmendes
Factum, dass der Gedanke einer Entartung
unserer Natur von dem Gedanken einer
Abweichung dieses Urtypus, der in sich
selbst die Elemente der Fortpflanzung der
Gattung enthielt, untrennbar ist. Deshalb«,
so folgerte er, »sind Entartung und krank-
hafte Abweichung vom Urtypus der
Menschheit meiner Ansicht nach nur ein
und dasselbe«. Entartung und moralischer
Verfall sind also für Morel zwei untrenn-
bare Begriffe.
Für die zeitgenössische Wissenschaft
ist dagegen die Entartung nicht immer
das Synonym für Verfall und Inferiorität,
denn sie ist oft von Verbesserungen und
Vervollkommnungen begleitet. Und anderer-
seits besitzt der normale Mensch nichts
von dieser Vervollkommnung, die Morel
nach den biblischen Legenden dem Urtypus
der Menschheit zuschreibt. Er ist nur das
Product der individuellen und socialen Aus-
wahl, das sich ganz nach dem historischen
und tellurischen Milieu richtet, dem es
angehört, und ebenso veränderlich ist wie
dieses. Der normale Mensch, der an die Masse
der fertigen Kleidungsstücke erinnert, die
man in den großen Magazinen kauft und
die wohl die Blöße decken, aber keine
persönliche Kleidung bilden, — der normale
Mensch ist also nur eine Art lebender
Teig, continuatives Plasma, der das Leben
und die Gewohnheiten, sowie die tradi-
tionelle Incrustation der Vorurtheile von
Generation auf Generation fortpflanzt.
Die Geschichte beschäftigt sich dagegen
nur mit den Anormalen; von den Er-
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