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Der Fremde (an das Volk):
»Seht ihr diesen Vogel da — erst nur
einen kleinen, schwarzen Punkt in der Ferne?
Seht ihr ihn? Augen, so groß wie Rachen,
welche die Sonne trinken wollen, und Flügel,
breite, weit ausgestreckte Flügel und mächtige
Krallen? Wenn ich ihn herrufen wollte, würdet
ihr fliehen und euch vor Schrecken in die
Erde verkriechen denn es ist ein Königs-
adler, der da oben in der Einsamkeit des
Äthers kreist. Seht ihr ihn?«
Staunen malt sich auf allen Gesichtern.
»Fürchtet nichts — ich werde ihn nicht
herrufen. Nie will ich das Sublime zu euch
sich niederbeugen heißen. Der Blitz trifft nur
das, was hervorragt. Ihr, die ihr den Haufen
an den Straßenecken bildet, ihr habt nichts zu
befürchten — er würde verschmähen, euch zu
treffen, und begnügt sich damit, euch in eure
Häuser verkriechen und erbleichen zu sehen.«
Das Volk stößt sich an die Ellbogen und
fängt an zu kichern.
»Ihr habt Recht — lacht nur — ihr seid
einander alle gleich — in eurer Lächerlichkeit!
Ob ihr euch selbst oder euren Nachbar seht,
das ist alles eins — lacht nur! Der Schaf-
hirte kennt jedes seiner Schafe, aber ich frage
euch: Wer könnte den einen von euch von
dem anderen unterscheiden? Man hat euch
gesagt: Liebet euch gegenseitig! Als ob sich
das nicht von selbst ergäbe? Ich aber sage
euch: Spottet einander gegenseitig, bis das
Lachen eure Verachtung für das Fremde,
worin ihr nicht immer euer Ebendbild seht,
getödtet hat. Hasset einander! Verachtet ein-
ander!«
Ein Gemurmel geht durch die Menge.
»Jeden Tag schreit ihr nach »Gleichheit«!
Aber ich sage euch: Ihr seid gleich! Ihr
könnet dessen eurem Gott danken. Wie würdet
ihr auch Ungleichheit ertragen können? O
Chimäre! Denjenigen von euch, der den Stem-
pel der Ungleichheit trägt, werft ihr doch gleich
einem Paria in den Staub!«
Diese Worte des stolzesten, unbarm-
herzigsten Idealismus, diese kühne Rede
einer »Ausnahmsmoral«, einer Moral, so
weit entfernt von all den üblichen Moral-
principien, geschweige der christlichen,
bilden den Gipfelpunkt in der merkwürdigen
symbolischen Dichtung des holländischen
Dichters W. G. van Nouhuys,* die vor
kurzem das französische Publicum durch
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Gedankenfülle und bestrickend schöne Form
ergriffen hat und die heute den Lesern
der »Wiener Rundschau« vorgeführt sei.
Ein niederländischer Dichter hat hier
mit der diesem Volke eigenen Volubilität
in geistiger Beziehung, die man ihm im
Auslande gar nicht zutraut, einige der
bedeutendsten Zeit-Ideen in seinem Gehirn
festgehalten, Ideen, die in geistes-aristo-
kratischer Tendenz sowohl an Ibsen wie
an Nietzsche erinnern und diese in eine
ganz neue Form gekleidet, die in Einfach-
heit und Kraft oft an diejenige der Bibel
mahnt und wieder oft ganz lyrisch in an-
muthigem Schmelz wie eine weiche Melodie,
in der Dämmerung gesungen, verklingt.
Man könnte sagen, dass in diesem Werke,
das so hohe Wahrheiten erstrebt, das
Künstlerische so weit getrieben ist, dass
die Wahrheit als Stimmung, die Stimmung
als Wahrheit wirkt — man nehme nun
dieses als Lob oder Tadel an. Mir war
ein solches Werk von der Hand dieses
Dichters umso auffallender, als man ihn
mir speciell als den geschicktesten der
jetzigen holländischen Bühnendichter
genannt hatte, dessen Stücke aus dem
modernen Leben wohl zu Hunderten von
Aufführungen gelangt waren, eine sonst
auf dem holländischen Theater fast beispiel-
lose Ausnahme. Und seine eigenen Worte
zu mir, als ich ihn im Haag besuchte: »Und
doch meine ich nicht als Dramatiker ge-
boren zu sein«, Worte, so selten aus dem
Munde eines dramatischen Autors, der
reussiert hat, wurden mir erst ganz klar,
als ich das vorliegende Werk las, das,
von flüssiger Stimmung ganz durch-
drungen, eine vollständig lyrische Dichtung
ist trotz seiner dramatischen Form und
trotz seines dramatischen Kerns.
Der Dichter hat die ganz eigenartige
Idee gehabt, das Sublime, das allerhöchst
Zielende, wozu der Menschengeist gelangen
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