Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 43

W. G. van Nouhuys: »Egidius und der Fremde« (Jacobsen, R.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 43

Text

JACOBSEN: W. G. VAN NOUHUYS.

kann, in der Gestalt eines »Fremden«
zu personifizieren, eines Fremden, der,
unverstanden, von dem rohen Haufen
verachtet und verspottet, seinen Pilgergang
durch die Welt geht. Man möchte sagen,
es sei die berühmte »ideale Forderung«
aus Ibsens »Wildente«, die hier Fleisch
und Blut geworden ist, ein zweiter Christus,
der seine hohe Lehre in die Wüste hinaus-
schreit, aber ein Christus ohne Schmerzens-
thränen oder triefende Blutstropfen, ein
Christus mit stolz herausfordernder Stirn
und trotziger, unbeugsamer Haltung. Was
dieser Gestalt einen eigenen Reiz verleiht,
ist trotz alledem ein Schimmer von tiefer
Melancholie, die wie milde Musik seine
herben Worte umfließt, die seinen strengen
Gang durch die höhnende Menge mitunter
zaudernd erscheinen lässt und seine nieder-
schmetternden Worte in reichen Bilder-
schmuck kleidet.

Der Vorgang in dieser symbolischen
Dichtung besteht darin, dass dieser
»Fremde« auf seiner Erdenwanderung
einen jungen edlen Mann, Egidius, der
scheinbar allen Idealforderungen eines
Menschenlebens entspricht, aufsucht, um
ihm unbarmherzig die Binde von den
Augen zu reißen und ihm die Beschränktheit
seines ganzen Geistes- und Seelenlebens
ohne Schonung zu zeigen. Um ihn der
Unendlichkeit näherzubringen, reißt der
Fremde alles das unbarmherzig nieder,
worauf er sein Erdenglück gegründet
hat, er zeigt ihm seine höchsten Ideen
in Gewohnheit und Convenienz wurzelnd,
seine Freuden eitel, und seine Schmerzen,
obwohl herb und tödtend, dem Unendlich-
keitsdrang in seiner Seele heilsam. Über-
all, wo er geht und steht, wird Egidius
von diesem geheimnisvollen Fremden
fortwährend wie von einem Schatten
verfolgt, aus einer anderen Welt klingt
ihm seine Sprache, oft abschreckend, kalt
und hart, oft aber auch lockend, innig,
tief bedeutungsvoll, wie die mystische
Weisheit selbst, die aus dem Born des
Ewigen fließt.

So spricht er z. B. zu ihm über Schein
und Realität, da sie eines Tages an den
Ufern eines stillen Sees wandeln. Der
Fremde wirft einen Stein ins Wasser.
Indes Egidius die Cirkel, die der Stein auf der
Oberfläche bildet, mit dem Auge verfolgt,

sagt er: »Was siehst du dort? Was hörst
du? Eine leise Bewegung, einen dumpfen
Fall Alles auf der Oberfläche, wie
das Säuseln im Schilf. — Ich aber bin
dem Steine gefolgt, der in der Tiefe tödtete.
— Ich fühlte dabei einen Hauch von
Todeskampf, eine Ahnung vom Tod. Jeder
Stein, in die geheimnisvollen Tiefen
geworfen, tödtet etwas; du weißt es nicht.
Nur wenn du den Todten auf der Oberfläche
treiben siehst, verstehst du etwas vom
Tod«. Und er reicht Egidius einen leblosen
Fisch, den er aus dem Wasser geholt hat.

Eines anderen Tages gehen sie
zusammen und der Fremde spricht:

»Du sagst, du hättest mich in mehreren
Tagen gesucht«?

Egidius betheuert dieses.

»Und wenn du auf dem Schiffe dort
in der Ferne gewesen wärest, hättest du
mich dann auch gesucht«?

»Nein, das wäre mir unmöglich
gewesen.«

»Doch vermag die Liebe dieses. Sie
fürchtet nicht auf dem Wasser zu schreiten.
Sie weiß sich unsterblich. Die Unendlichkeit
des Oceans kann sie nicht zurückhalten,
auch die dunkle Erde nicht. Selbst nach
der Kreuzigung ruhte sie nur drei Tage
in der Erde Schoß.«

Und ein anderesmal zeigt ihm der
Fremde die Beschränktheit seines Denkens,
seinen Anhang ans Herkömmliche:

»Warum findest du ein bekleidetes
Thier lächerlich? Warum einen Menschen,
der plötzlich nackt dasteht? Alles aus
Gewohnheit.«

Der eigentliche tragische Conflict fängt
an in dem Augenblick, als der Fremde
das Haus Egidius’ betritt. Dort lächelt all
das Sonnenglück des Lebens.

»Ist dein Haus dunkel?« hatte ihn der
Fremde bedeutungsvoll gefragt.

»Nein, mein Haus ist hell und heiter.«

»Und du meinst, dass die Helle und
das Dunkel in den Menschenwohnungen
von des Menschen Wille abhängt?«

»Ja Wir können ja die Zimmer
verfinstern und hell machen nach unserem
Belieben.«

Der Fremde folgt ihm, setzt sich aber
in die finsterste Kammer des Hauses,
verschließt alle Vorhänge und Licht-
öffnungen fest und starrt so in das Dunkel

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 43, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-02_n0043.html)