Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 45

W. G. van Nouhuys: »Egidius und der Fremde« Ein Quartett in Rom (Jacobsen, R.Kolb, Annette)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 45

Text

KOLB: EIN QUARTETT IN ROM.

entstellte Gesicht der verschiedenen Gattin
flößt ihm nicht länger Schrecken ein,
ruhig und furchtlos blickt er es an
und sein irdischer Schmerz löst sich auf
in ein mystisches Vorgefühl der sich
nähernden Unendlichkeit

Der Vorzug dieses eigentümlichen
Werkes ist, wie gesagt, vor allem das
rein Künstlerische. Möglicherweise sind
die großen Grundideen darin nicht ohne
Einfluss von anderen bedeutenden Zeit-
strömungen; die Stimmung aber, die
musikalische und malerische Behandlung
der Totalität und der Einzelnheiten ist
von originalem Schmelz. Die geheimnis-
volle Gestalt des »Fremden« ist geprägt von
echt plastischer Grazie, sie erinnert in
edler Melancholie an die Figuren jener

Genien der antiken Grabmäler, die den
Sterblichen vorausschritten, um sie »ins
dunkle Reich« hinüberzubegleiten. Diese
schönen Jünglinge, die eine umgekehrte
Fackel in der Hand trugen, um des Lebens
Scheiden zu bezeichnen, waren Brüder
jener milden Genien des Schlafes und des
Traumes, welche die Alten mit der süß-
betäubenden Mohnblume in der Hand
darstellten. Und auch in der hoheitsvollen
Gestalt des »Fremden« hier ist Narkose, Be-
täubung durch milde, stimmungsvolle Worte
aus dem Born des Unendlichen für das
irdisch Jämmerliche, das Niederdrückende
und Kleine — die Narkose des leiden-
schaftslosen Beschauens — der Rausch
des Nirvana.

W. G. van Nouhuys, geboren 22. Juni 1854 zu Zaltbommerl in Gelderland, gehört
zu den Schriftstellern des sogenannten »Durchbruches« in der holländischen Literatur, die sich
in dem Jahrzehnt 1880—90 durch die Befreiung von allem Schlendrian in Inhalt und Form,
durch alles Lossagen vom Herkömmlichen geltend machten. In der Residenzstadt Haag,
die eine Reihe bedeutender Schriftsteller aufzählen kann (so Louis Couperus, Marcellus Emants,
Lapidoth, Helen Swarth-Lapidoth, Henry Borel u. a. m.), wirkt er als der gefeiertste Dramatiker
der jetzigen holländischen Literatur und nebenbei auch als Essayist und Literar-Historiker.
Seine berühmtesten Dramen, die in der Heimat hunderte von Aufführungen erlebt haben, sind
»Ehrlos«, »Der Goldfisch« und der »Provinzcirkel«, von denen »Der Goldfisch« jetzt über deutsche
und englische Bühnen geht. Die erste Aufführung dieses Stückes in Deutschland fand, wie
uns berichtet wird, unter dem Titel »Gekaufte Liebe« am 25. November 1899 im Residenz-
theater zu Wiesbaden statt.

Die hier besprochene Dichtung »Egidius und der Fremde«, die in Holland und Frankreich
ungewöhnliche Sensation erregt hat, erscheint binnen kurzem in einer neuen, vollendet künst-
lerischen Ausgabe mit Bildschmuck von Toorop.

EIN QUARTETT IN ROM.
Von ANNETTE KOLB (Rom).

Ein Zauber fasst den Wanderer, der
unter den paradiesischen Bäumen des
Borghese-Gartens sich ergeht. Er sieht
die wundervollen stillen Rasenflächen, die
unbeschreibliche mythologische Färbung,
welche die Natur hier anzunehmen
scheint, und die den Beschauer ergreift,
so dass er innehält und lauscht, als sei
Diana mit ihrem Gefolge nahe, als
wähnte er Nymphen in diesem Hain —
und wie aus fernem Lande kommt er
bei Sonnenuntergang auf den Corso zu-
rück. Nirgends werfen die letzten Strahlen

ein so träumerisches Licht, fluten so
weich und sanft wie in Rom — und
alles in der Luft, alles in der Stadt, selbst
die Hand, die uns die gelben Blumensträuße
entgegenstreckt, weckt Erinnerungen und
Töne Eine mattblonde Römerin lehnt
unvergesslich schön in ihrem Wagen —
ihr aber folgen in dichtgedrängten Zügen
die Töchter New-Yorks, Bostons und
Chicagos. Wir sind weit von Dianen.

In keiner Stadt Europas ist das
amerikanische Contingent so sehr im
Vordergrunde, so tonangebend, wie in

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 45, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-02_n0045.html)