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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 41

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FERRI: DIE ANORMALEN.

Schrift seines Kindes, das zur Elementar-
schule geht, bis zu der gleichmachenden
Lehrmethode unserer Marionetten schaffen-
den Gymnasien ist dies alles und unsere
ganze Existenz nichts weiter, als das
unerbittliche Document dieses Cultus des
Normalen, der wirklich recht hartnäckig
und in unseren Gemüthern tief eingewurzelt
sein muss, wenn er sogar als Schluss-
folgerung der kühnsten wissenschaft-
lichen Neuerungen zu uns zurückkommt.

In der That kommen Ammon und
Lapouge z. B. mit ihrer Anthropo-Socio-
logie, die den ganzen ungeheuren Deter-
minismus der socialen Entwicklung auf
den mathematischen Punkt des cephalischen
Index (entsprechende Kopflänge und -Breite)
zurückführen möchten, zu der Schluss-
folgerung, dass nur die blonden Menschen
mit langem Kopfe Instrumente des mensch-
lichen Fortschritts und infolgedessen würdig
sind, die Rasse fortzupflanzen. Und von
den schädlichen Wirkungen, über die sich
Broca bereits verbreitet hat, von der ver-
kehrten socialen Auswahl (religiöse, mili-
tärische, eheliche, politische und vor allem
wirtschaftliche Auswahl) ausgehend, durch
die gerade die Bestbegabten zum Cölibat
oder zum Elend verurtheilt sind, um die Fort-
pflanzung der Schwachen und Schlechten
zu begünstigen, gelangen sie zu der Schluss-
folgerung einer systematischen Zuchtwahl
der Menschheit. Das heisst: Ammon und
Lapouge schlagen, indem sie eine Idee
Darwins und der Darwinianer Galton,
Stanley, Haycraft über die Unzuträglich-
keiten der den Schwachen und Missgestalteten

gespendeten Pflege und Bevorzugung wieder
aufnehmen, — sie schlagen vor, nicht
allein die Fortpflanzung schlecht begabter
Männer und Frauen zu verhindern, sondern
die Fortpflanzung gut geborener, d. h. dem
Urtypus Morels am nächsten kommender
Typen (selbst mit Hilfe künstlicher Be-
fruchtung) sozusagen zu legalisieren. Das
wäre alles in allem eine universelle
Normalisierung, die jede Quelle
der Anormalität und, davon ausgehend,
jede Quelle des Fortschritts und des besseren
Lebens unterdrückt.*

Aus den prähistorischen Wäldern ist
die Menschheit zu unserer modernen Civili-
sation nur dank der Thätigkeit der Anor-
malen und weniger gut Geborenen gelangt;
denn die Entartung ist ein Ungeheuer mit
zwei Gesichtern: auf der einen Seite
scheußlich, entmenscht und entmenschend,
auf der anderen prächtig, rebellisch und
fruchtbar. Befreien wir uns daher von
diesem Fetischismus der sogenann-
ten
»normalen« Menschen (die Natur
zeigt sich ohnedies ihnen gegenüber nur
allzu verschwenderisch) und gewöhnen wir
uns daran, die Anormalen ohne Hass und
ohne Misstrauen zu betrachten. Schützen
wir uns vor den involutiven und
gefährlichen Anormalen
mit gütigem
Mitleid, ohne Hass und ohne die noch
bestehenden Werkzeuge der mittelalter-
lichen Tortur, und tragen wir zur Re-
habilitierung der evolutiven Anor-
malen bei
, die der des Neuen und
Besseren stets bedürftigen Menschheit so
viele Wohlthaten erwiesen haben.

* Was die negative Seite des Problems betrifft, d. h. die Verhinderung der Fortpflanzung
der involutiven und anti-socialen Anormalen, so ist es gut, daran zu erinnern, dass die Idee
schlecht und recht ihren Weg macht. Das »Medico-legal Journal« in New-York (März 1897)
berichtete, dass Mr. Edgar, Deputierter für Michigan, einen Gesetzesentwurf über die
»Asexualisation« der Verbrecher eingebracht hat. Der Paragraph 1 lautete: „Alle als
geistesgestört oder epileptisch in Asylen eingesperrten und alle zum drittenmale verurtheilten
Personen sollen, bevor sie das Gefängnis oder das Irrenhaus verlassen, einer Operation unter-
zogen werden, die ihre Asexualisation hervorbringt und ihnen die Fähigkeit nimmt, Kinder zu
erzeugen.“

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 41, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-02_n0041.html)