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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 40

Text

FERRI: DIE ANORMALEN.

lutiven Anormalen der anonymen Masse
der Normalen trotz Spott und Verfolgung
aufdrängt.

Die evolutiven Anormalen — die ein-
zigen, mit denen wir uns beschäftigen —
gleichen den Schmetterlingen, die von
einem blendenden Lichte angelockt werden.
Sie werden natürlich manchmal in ihrem
Philoneismus betrogen, denn wenn das
Licht nicht von einem wirklich genialen
Manne kommt, sondern von einem Mattoi-
den, einem Halbverrückten, einem Poseur
(egoistischen Anormalen), der die Allüren
des Genies annimmt, so setzen sie sich
der Gefahr aus, einen Embryo zu pflegen,
der nicht lebensfähig ist.

Das hindert nicht, dass die Entartung
der evolutiven Anormalen die wohlthätige
Quelle jeder Verbesserung des socialen
Lebens, jeder Eroberung des Unbekannten,
jeder Befreiung vom Vorurtheil ist. Wenn
Lombroso von den »Wohlthaten des Ver-
brechens« und Dürkheim mit ebenso
hohem wissenschaftlichen Muth (der die
— normalen — Sociologen so sehr em-
pört hat) das Verbrechen als »Bedingung
der socialen Gesundheit« betrachtet, so
stellen sie eine Behauptung auf, die sich,
um wahr und genau zu sein, nur auf die
Unterscheidung zwischen der atavistischen
oder involutiven Criminalität (die stets
schädlich und pathologisch ist) und der
evolutiven Criminalität stützen darf, die
— das muss man anerkennen — nicht
so schädlich ist, obwohl sie stets das
Product einer anormalen Persönlichkeit ist.
Übrigens rangiert bei der evolutiven
(politischen und socialen) Criminalität nur
der Zufall des materiellen Erfolges die
Episoden unter die glorreichen oder straf-
baren Handlungen. Der politische oder
sociale Revolutionär ist ein Retter der
Gesellschaft oder ein Verbrecher, je nach-
dem es ihm glückt oder nicht glückt;
und der Mord ist im Krieg eine glorreiche
Handlung, ebenso wie die Kirchen- und
die classische Geschichte uns lehren, Judith
und Brutus zu bewundern.

Gewisse neue Formen der Wohl-
thätigkeit, wie gewisse wissenschaftliche
Entdeckungen (z. B. der Hypnotismus und
Spiritismus) sind gleichfalls Wirkungen der
unregelmäßigen Thätigkeit der Anormalen.

Und was soll man von den genialen
Menschen sagen? Die lombrosische Theorie,
dass das Genie eine Kundgebung epilep-
toider Entartung sei, ist wieder eine Er-
kenntnis der Urmenschheit, die nach
Tausenden von Jahren erst heute an-
fängt, der öffentlichen Meinung sich
zu bemächtigen. Anormal in ihrer Con-
stitution, mit zahlreichen Stigmaten
der Entartung behaftet, sind die genialen
Menschen trotzdem ein weiterer Beweis
der wohlthätigen Wirkungen der evolutiven
Energie der menschlichen Entartung, die
an sich unrettbar von Erschöpfung und
Unfruchtbarkeit befallen wird, aber erst,
nachdem sie irgend eine Fackel un-
bekannter Wahrheit über der vegetierenden
Masse der normalen Menschen hat leuchten
lassen. Und was kann im praktischen Leben
die verkümmernde und erstickende Ge-
wohnheit der Vorurtheile, der Traditionen,
des »Autoritätsprincips« mit seiner Aus-
beutung der — normalen Massen, die
nur zum Vergnügen einiger privilegierter
— Anormaler da sind, erschüttern und
ihnen Sauerstoff zuführen, wenn sich
nicht gerade die Empörung und Neuerungs-
sucht aller möglichen Fanatiker bethätigte?

Man muss also auf eine Rehabilitierung
der Anormalen folgern, indem man in der
öffentlichen Meinung eine Entwicklung
des Urtheils annimmt, ähnlich der des
ästhetischen Geschmacks, durch die wir
dahin gelangt sind, in der decorativen
Kunst die asymmetrischen Seltsamkeiten
der symmetrischen Harmonie vorzuziehen,
wie ja auch eine schöne Frau von normaler
Schönheit uns fast stets weniger gefällt
und fast stets weniger intelligent ist, als
eine hübsche Frau von anormaler Schönheit.

Der Fetischismus des Normalen ist
aber doch nicht so leicht zu heilen. Er
ist ein Alp, den die menschliche Herde
seit einer Reihe von Jahrhunderten er-
leidet und erleiden lässt, und diese Reihe
von Jahrhunderten wird nur von Zeit zu
Zeit von irgend einer historischen Parenthese
der »Wiedergeburt« und der »Revolution«
unterbrochen, die gerade das Aufblühen und
den Triumph der progressiven Anormalen
bezeichnet. Von der Verzweiflung des guten
Familienvaters wegen der schlechten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 40, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-02_n0040.html)