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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 39

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FERRI: DIE ANORMALEN.

oberern bis zu den Verbrechern, von den
Heiligen bis zu den Genies! Die Herde
der normalen Menschen geht in den Jahr-
hunderten ohne Zahl und ohne Namen
unter. Ein großer Anormaler, Napoleon I.,
sagte: der normale Mensch ist die Infan-
terie der ewigen menschlichen Armee.

Die Auffassung Morels hat sich auf
die religiösen Anschauungen der Erbsünde
und des Verfalls durch die Sünde so fest-
gepfropft, dass sich der Gedanke der
Entartung in dem menschlichen Gewissen
in Form eines biblischen Fluches fest-
wurzelte. Der normale Mensch wurde
und wird von handwerksmäßigen Ge-
lehrten jetzt noch als der entartete
Typus der tugendhaften, fruchtbaren und
fortschreitenden Menschheit betrachtet.
Und doch hat der anormale Typus die
Wissenschaft der unparteiischen und klaren
Beobachtung mit seiner Rache betraut,
und man muss ihn jetzt von der primor-
dialen Auffassung Morels befreien, um nur
die allgemeine Intuition der bio-psychischen
Entartung als objective und zu den ver-
schiedensten und entgegengesetztesten
Wirkungen fähige Thatsache anzusehen.

Man muss sogar sagen, dass jeder
menschliche und sociale Fortschritt nur
das Werk von Anormalen ist.

Die Urvölker beten die Wahnsinnigen
an und machen sie zu Heiligen und Magiern.
Es lag darin eine tiefe Bedeutung, die in
allen Jahrhunderten herumstreifender Meta-
physik verschleiert gewesen und verloren
gegangen war und sich erst im Lichte
der positiven und menschlichen Wissen-
schaft wiedergefunden hat.

Indessen muss man Unterschiede
machen, denn nichts ist im Leben absolut.

Es gibt untergeordnete Anormale, die
ich involutive nennen will, und es
gibt evolutive Anormale. Die ersteren
sind Egoisten und haben kein Interesse
und kein Gefühl für die Nützlichkeiten
und Bestimmungen der Rasse, das heißt
der anderen die Menschheit bildenden In-
dividuen. Die anderen dagegen sind mehr
oder weniger Altruisten, und ihre
geistige und sogar ihre Muskelthätigkeit
hat stets Motive und Reflexe, die der Ent-
wicklung der menschlichen Rasse günstig

sind. Der Cretin, der Idiot, der zurück-
gebliebenste Schwachkopf, der atavistische,
antihumane und egoistische Verbrecher,
der Tollhäusler mit verkümmerter und
chaotischer Intelligenz, der schmutzige
und abstoßende Conträr-Sexuelle und similie
ordura
— wie Dante sagte — sind in-
volutive Anormale, schädliche oder un-
nütze Makroben des socialen Organismus.
Doch bilden sie auch nur die kleine
Minorität in der so bunten Welt der Anor-
malen. Denn von dem evolutiven (politischen
und socialen) Verbrecher bis zu dem Irren
mit lichten Momenten; von dem zeitweise
Gestörten, dem sich gegen alle conven-
tionellen Lügen sträubenden Leidenschafts-
menschen bis zu dem Mystiker und religiösen
und politischen Fanatiker oder zu dem
Manne von wissenschaftlichem oder künst-
lerischem Genie ist die Zahl der evolutiven
Anormalen weit größer als die der in-
volutiven Anormalen.

Die ewige Menschheit besteht in der
That aus einer kleinen Anzahl biologischer
und socialer Auswürfe und Trümmer, auf
denen die Masse der normalen Menschen
herumwimmelt, genau so wie die Phagocyten
in dem animalischen Körper; unter dieser
steigen die evolutiven Anormalen an die
Oberfläche, die sie anreizen, verwirren,
vorwärtsstoßen, erheben und weiter drängen.

Thatsächlich ist der evolutive Anormale
nur ein Hirn von geringerer Widerstands-
kraft den neuen Ideen gegenüber; Philoneist,
Altruist, sentimental (und oft explosiv), zu
Opfern fähig, Monoideist (eine Abart
der Hystero-Epilepsie), hat er zum Nutzen
des Fortschrittes die ungeheure Kraft der
fixen Idee für sich, die eigensinnig, un-
ausrottbar dem wechselnden Sturme der
Meinungen widersteht — und schließlich
triumphiert er.

Der Mann von Genie ist ein anormaler
Evolutiver, der die neue Idee schafft.
Sein Werk fällt in die sterbliche Leere,
wenn die sociale Atmosphäre nicht ge-
nügend kräftigen Gährungsstoff enthält,
um den neuen Samen aufkeimen zu lassen
und zu entwickeln, den der rückschrittliche
Misoneismus der Normalmenschen um-
kommen lassen würde, den aber die Liebe
zum Neuen, die Opferfreudigkeit, der
Monoideismus, der sentimentale Impuls
und sehr häufig der Fanatismus der evo-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 39, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-02_n0039.html)