Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 32

Farbe und Linie II. (Lindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 32

Text

LINDNER: FARBE UND LINIE.

auch dahin gelangen, die Abhängigkeiten
seines tausendfältigen cerebralen Lebens,
den Anprall des inneren Milieus — den
man den Kampf mit dem intellectuellen
Subject nennen könnte — königlich zu
überwinden. Haben wir erst möglichst
aufgehört, Sclaven unserer Associationen
zu sein, so ist damit auch schon ein gut
Theil Freiheit für unsere innere Cultur
erobert. Damit wäre uns alsbald die Mög-
lichkeit gegeben, von jeglichem Schön-
heitsquell — und was sind die Dinge
der Außenwelt anderes als Quellen latenter
Schönheit? — in unmittelbarster Hin-
gebung an seine geheimste Wesenheit mit
nachschaffender Seele zu genießen. Jegliches
Genießen wäre ein Nachschaffen, weil wir
— sozusagen — mit athmender, aus-
dehnungsfähiger Seele und ewig wachen
Augen, vom Blute unserer Fibern ge-
trieben, gedankenlos den Umrissen,
Innenlinien und Farben aller Dinge
folgen, mit ihnen größer, mit ihnen
enger würden — und also von innen
her an ihnen wachsen müssten.
So käme es, dass wir uns — ungehemmt
durch intellectuelle Gegenkräfte — rings
in die Dinge verlieren könnten, um
— innerlich durch sie bereichert — aus
ihrem Umkreise mit neuen Erweiter-
ungsmöglichkeiten hervorzutauchen.
Wir kämen im Fieber der Betrachtung
uns selber irgendwo abhanden,
um uns an irgendeinem Punkte, wo sich
die Ströme unseres Wesens mit denen
der Dinge kreuzen, urplötzlich zu begegnen.
Das gäbe den Anschein, als läge ver-
edelndes Spiegelwerk zwischen uns und
den Dingen gebreitet — und das alte
Wort von der verschönernden Spiegelung,
die unser Ich in der Außenwelt erfährt,
bekäme eine neue, vertiefte Deutung. In
Kitteln zögen wir aus, in Hermelin sähen
wir uns wieder. Vor allem aber würde
uns auf diesem nothwendig verkrümmten
Wege das STAUNEN wieder geläufig, das
Staunen, das in der allseitigen Bewusstheit
unseres contemplativen Gehabens längst
schon verloren gegangen und nicht mehr
zu finden ist, das Staunen, Schauen,
Lauschen, die als Ur-Phänomene jedes
seelischen Erwachens gleichzeitig den Ur-
quell jedes künstlerischen Schaffens und
Betrachtens bilden. Damit wäre uns wieder

ein Theil jenes Kind- und Thierhaften
zurückerobert, dessen wir unbedingt be-
dürfen, wenn wir uns — inmitten der
verwirrendsten Anklänge und Anregungen
— ein starkes und reines Verhältnis zu
den Erscheinungen bewahren wollen.

Denn unerschöpflich sind die seelischen
Kräfte der Kinder. Wir könnten bei
Kindern in die Lehre gehen. Wir sollten
mit Kindern in Museen gehen. Nicht um
sie naseweis zu belehren, wie wir das gewohnt
sind, wohl aber, um demüthig von ihnen
zu lernen. Sie würden uns in ihrer ge-
schäftigen Schweigsamkeit oder in der Un-
beholfenheit ihrer noch nicht abgegriffenen
Worte beschämend unterweisen, dass man
vor leuchtenden Topasen, Smaragden,
Rubinen, vor bunten Glasstücken oder
glühend-rothen Kohlen, vor Arabesken,
Wirbelcurven und allen sinnlich-impetuosen
Wundern — unbeirrt durch die kläglichen
Rücksichten und Vorsichten des Intellects
und mit einer restlos absorbierenden Samm-
lung sämmtlicher Innenkräfte — nur willen-
los dem Schauen zu dienen und kindlich
zu staunen habe, um durch dieses
Staunen
aus der Gewalt der Dinge, die man
schauend erschöpft, über die Dinge ge-
hoben zu werden und so im Augenblicke
des Betrachtens der glücklichste Trium-
phator zu sein. Da sie, die Kinder, das
Inhaltliche noch nicht zu erfassen ver-
mögen und von Associationen noch nicht
geknebelt sind, wird ihnen das Stoffliche
gleichgiltig, alles Hemmende ungefährlich,
alles Bildhafte decorativ sein. Denn es
ist ihnen namentlich auch die Tyrannei
unserer Umgangs-, Buch- und Zeitungs-
sprache erspart geblieben, die längst nicht
mehr der organische Ausdruck individueller
Impulse ist, wohl aber den Kleinhandel
mit gangbarster Münze, mit verwaschenen
Worten, mit ausgefransten Metaphern ge-
schaffen und also den Despotismus fest-
stehender Reminiscenzen aus allen An-
schauungs- und Bildungsgebieten über uns
gebracht hat. Noch hat ihnen die After-
Cultur der Gymnasien und Töchter-Lyceen
den belebenden Einfluss nicht verwischt,
den ihnen eine bewegliche, gütige Mutter
oder der derbe Anschauungs-Unterricht eines
primitiven Lehrers manchmal zu geben
weiß. Noch hat ihnen das Sitzfleischwissen
der Akademien die Begriffe nicht ver-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 32, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-02_n0032.html)