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kalkt, die Sinne nicht unterbunden, die
Seele nicht masturbiert. Noch haben sie
sich nicht in den vornehmlichsten Cultur-
instituten unserer zahlungskräftigen Kreise,
in Leihbibliotheken, Lesezirkeln, Vereinen,
in Assembléen, Conferenzen, Theatern, in
Kirchen, Kaffeehäusern und Tempeln, mit
jener aufdringlichen Angelesenheit und
Angehörtheit vollgestopft, die jede Haut-
pore mit unreifen Associationen verklebt,
das Divergierendste gewaltsam von Blut
und Nerven aufsaugen lässt, eine durchaus
unorganische, übelduftende Bildung er-
zeugt und jene epileptoide Species der
ἄμουσοι ἄνδρες ϰαὶ γυναῖϰες heranzüchtet,
die über alles und überall (nicht ohne Hände)
mitsprechen, weil sie nie etwas zu sagen
haben, was der Rede wert wäre.
Darum haben es am Ende des
XIX. Jahrhunderts, wie stets am Aus-
gange aller hysterischen Zeitläufte, nament-
lich die Kinder in ihrer Macht, uns die
verlorengegangene Kunst des unmittel-
baren und reinen Schauens wieder bei-
zubringen. In der rührenden Eindringlichkeit
ihrer Instincte, die alles Das unbewusst
wiederspiegeln, was die Culturarbeit der
letzten Epochen den Rassen zugetragen,
haben sie es in ihrer Gewalt, uns zu der ur-
sprünglichen Reinheit der Dinge und zu
den unmittelbarsten Wirkungen der Künste
wieder zurückzuführen.
Ähnliches vermögen die Thiere. Ihre
Art ist die der Kinder, ihre Art ist
rührender in manchem Betracht, und ihr
Verhältnis zur Kunst, besonders zur Musik,
ist ungleich würdiger als das der antropo-
morphen Verbildungskrüppel. Wenn es
gestattet wäre, Hunde in die Gallerien zu
bringen, könnte man das Experiment mit
Vortheil riskieren. Und wahrlich, aus den
staunenden Augen eines klugen, schweig-
samen Hundes, der mir zur Seite die
Bilder abschreitet, ist für mich weit, weit
mehr zu holen als aus den verschimmelten
Theorien ästhetisierender Eunuchen.
Was von den Kindern und Thieren
gilt, kann für den »Künstlermenschen«
belangvoll sein, sofern er seine Instincte zu
jener Lauterkeit und Freiheit treibt, die
derlei zu respectieren weiß. Die erlauchte
Weltanschauung der Kinder und Thiere
zu achten, bedarf es eines adeligen Ge-
müths, das in der Bitternis des eigenen
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Leids die Neigung zu frivolem Lächeln
verloren hat — bedarf es einer Unab-
hängigkeit des Intellects, die mit der
bornierten Überlegenheit des Alltags nichts
gemein hat — bedarf es insbesondere
jener nachtwandlerischen Sicherheit
den Erscheinungen des Lebens gegenüber,
die just den größten Menschen aller Zeiten
zu eigen gewesen und auch den Thieren
und Kindern seit Urbeginn zu eigen ist.
»Was sie willenlos sind, sei du es wollend —
das ist’s!«
Dies sollte sich der »Künstler-
mensch«( Mensch, der die geheime Macht
in sich fühlt, durch harmonische Selbstcultur
und organische Entwicklung seiner psychi-
schen Kräfte über die amusische Blind-
heit des intellectuellen Pöbels hinauszu-
kommen) freundlichst ad notam nehmen.
So oft er in das Bereich der Künste tritt,
könnte er dieser Worte ohne Nachtheil
gedenken. Das mag solange geschehen,
bis die veredelnde Gewöhnung den ver-
standesmäßigen Blick, den die Compen-
dien lehren, überwunden hat. Dann wird
sich wohl in der Psyche des Künstler-
menschen selbst vor so complicierten
Phänomenen, wie es die absolute Farbe
oder Linie ist, ganz intuitiv ein Be-
trachtungsspiel entwickeln, das annähernd
das folgende ist:
Seine Augen werden nachtastend —
wenn es auch seltsam zu sagen ist — an
den wunderlich geschwungenen Linien
wunderlich hinauf-, hinabrollen oder mit
visionär geweiteter Pupille in Farben und
Formen tauchen und seine Seele mit
hineinziehen. Die Seele wird sich dem
Laufe der Linien anschmiegen, ihm un-
willkürlich folgen, bald weiter, bald enger
werden, bald die Flügel spreiten, bald mühe-
voll zwischen den Linien flattern — —
Oder sie wird in die glühende Tiefe der
Farben fallen, sich bienenhaft vollsaugen,
bald leichter, bald schwerer werden — —
Und schließlich wird sich als Reflex dieses
vielgestaltigen Enger- und Weiter-, Weiter-
und Enger-Werdens eine Art rhythmischer
Betriebsamkeit, eine innerliche Bewegtheit,
ein Vigilieren und Fluctuieren aller Sinne
ergeben, das man als psychisches Farben-
und Linienspiel bezeichnen könnte, da es
mit dem äußeren Linien- und Farbenspiel
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