Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 35

Farbe und Linie II. (Lindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 35

Text

LINDNER: FARBE UND LINIE.

todten Werkzeug eines constructiven Kopfes
sein Dasein zu danken hätte oder über-
haupt als etwas Unorganisches, Zufälliges,
Fictives zu denken wäre. Sie sind viel-
mehr wie Blumen und Blätter, die ihre
Wurzeln im Unendlichen, ihre Stengel
und Blüten hinter den Erscheinungen und
ihre Säfte in mir selber haben, ganz in mir
selber, der ich — gleich ihnen — in end-
loser Existenz im Kosmischen aufgelöst
war, aus dem Kosmischen in die Er-
scheinung trat und nun — gleich ihnen
— nach ewigen Gesetzen den ewigen
Kreislauf fortsetze. Meine Seele ist in
ihnen, mein Leben ist in ihnen, der
»Sinn« meines Lebens ist in ihnen. Und
also offenbaren sie mir gleichsam den
Rhythmus meiner Gangart, meines Herz-
klopfens, meines Athmens, den Rhythmus
meines Schweigens, wie sie andererseits
die Erscheinungsform aller Bewegungen
im All sind

So führt also eine durchaus reine, eine
(sagen wir:) organische und kosmische
Kunstbetrachtung, die überall nur das Un-
mittelbare und Wesentliche, überall nur das
Immanente und von innen her Gewordene als
das von Gott Gewollte und Fruchtbringende
erkennt und darum jedweden Anschauungs-
winkel abweist, der etwa erst aus anderen
Wirkungsgebieten gedanklich construiert
werden müsste, —

so führt diese reine Kunstbetrachtung,
die in Durchführung und Motiv stets nur
das wesentlich Künstlerische wittern und
auch die Eindrücke auf unsere Sinne zu
wesentlich künstlerischen gestalten möchte,
indem sie jede Verunreinigung durch un-
künstlerische Wirkungs-Elemente restlos zu
vertilgen sucht, —

diese durchaus reine Kunstbetrachtung
(deren Auswüchse und Schädlinge immer-
hin mit dem entsetzlich engen und nichts-
sagenden Terminus»l’art pour l’art«
etikettiert werden mögen) führt seltsamer-
weise, wie man sieht, zu einem aller-
heiligsten Centrum, in dem sie mit der
philosophischen Art der Kinder, Thiere
und sonstig Primitiven zusammenläuft und
in das Wesen alles Werdens geheimnis-
voll zurücklenkt. Und so hat sie die
königliche Macht in sich, eine zeitgemäße
(sagen wir: moderne) Naivetät von ganz
besonderer Art zu schaffen, die uns Ver-

bildeten das Mysterium des künstlerischen
Genießens neuerdings entschleiern könnte.
Geben wir uns ihr ganz hin, dann wird
es Denen unter uns, die leichte Füße haben,
ein Leichtes sein, die Königlichkeit des
Lebens aus allen Dingen, allen Menschen,
allen irdischen Offenbarungen zu schöpfen.
Als Bettler wurden wir geboren; aber,
gehorsam ihrem Flügelschlag, werden wir
uns als Könige wiedersehen. Und dazu
bedarf es durchaus nicht jener morbiden
Intelligenz der Nerven, von der in den
müden Kreisen seniler Epheben geräusch-
voll heute die Rede geht. Denn es ist
nicht richtig, dass nur ein tausendfach
verschnörkelter, abstrus gebildeter, an-
gelesener, also intellectuell und psychisch
verballhornter Mensch der Mosaikcultur
unserer Zeit gerecht werden kann; da er
selbst nur eine geflickte Intarsia-Arbeit
ist, in der die Hölzchen und Klötzchen
jeden Augenblick sich verschieben können,
weil sie nicht von innen her organisch
an ein Centrum gebunden sind, wird er
stets nur das Äußerliche, Zufällige und
Kleine mit prätentiösester Sorgfalt zu er-
fassen wissen, vor dem Geist aber, der
seine Zeit nicht am Finger laufen lässt,
sondern im Innern bewegt, rathloser als
ein Bauernjunge dastehen. Nach wie vor
ist allüberall der »dunkle Drang« des
reinen, hohen und festlichen Menschen
der beste Wegführer durch die gefährliche
Wirrnis unserer Tage! Der dunkle Drang
der großen und weiten Seele, die sich an
dem Kleinen nicht wundstößt, aber lautlos
darüber hinwegschwebt, aus dem Kleinen
das Große holt, das Kleine zum Großen
emporhebt und im Schweben die Lichtkreise
des Ewigen berührt. Seine Formen haben
sich nur geändert, doch seine Kraft hat sich
potenziert, ist ätzend und stechend geworden,
wiewohl sie ja im Grunde die nämliche ge-
blieben ist. Denn die vielfachen neuen In-
stinete, die uns jede ab- und aufwärts
gleitende Zeit gibt (und das Beste, was
wir von unserer Zeit haben, sind die In-
stinete, die sie uns schenkt —), münden
unaufhörlich und ewig wechselnd in diesen
acherontischen Strom des dunklen Dranges,
der seit Jahrtausenden — bald seichter,
bald reißender—in warmen Wellen die Welt
durchzieht, stets aber — aus Einem Punkte
entspringend — in den nämlichen Punkt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 35, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-02_n0035.html)