Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 48

Der Mensch im Futteral (Tschechoff, Anton)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 48

Text

TSCHECHOFF: DER MENSCH IM FUTTERAL.

nur hinter dem hochgeklappten Kragen
sichtbar wurde. Er trug eine dunkle Brille,
Watte in den Ohren, eine wollene Unter-
jacke, und wenn er in eine Droschke
stieg, musste es unbedingt eine geschlos-
sene sein. Mit einem Worte, dieser Mensch
war von dem ständigen und unüberwind-
lichen Drange beseelt, sich mit einer
Hülle zu umgeben, sich sozusagen ein
Futteral zu schaffen, welches ihn abson-
dern, ihn gegen jeden äußeren Einfluss
abschließen und schützen sollte.

Die Wirklichkeit regte ihn auf, er-
schreckte ihn, erhielt ihn in fortwährender
Unruhe, und vielleicht um diese seine
Schüchternheit zu rechtfertigen, seinen
Widerwillen gegen das Gegenwärtige zu
begründen, lobte er stets die Vergangen-
heit und das, was niemals gewesen. Ich
denke, auch die alten Sprachen, in denen
er unterrichtete, waren für ihn nichts
anderes als die Galloschen und der Regen-
schirm, die ihm dazu dienten, sich vor
dem wirklichen Leben zu verbergen.

»O, wie klangvoll, wie schön ist die
griechische Sprache!« pflegte er zu sagen,
und zwar mit einem Ausdrucke süßen
Entzückens, und gleichsam um die Wahr-
heit seiner Worte zu beweisen, sprach er
mit zusammengezogenen Augen und er-
hobenem Finger »Anthropos!« aus.

Auch seine Gedanken bemühte sich
Belikoff in einem Futteral zu verstecken.
Klar und deutlich waren für ihn nur die
Circulare und Bekanntmachungen in
Zeitungen, die irgend etwas verboten.
Wenn ein Circular den Gymnasiasten ver-
bot, abends nach neun Uhr auszugehen,
oder ein Zeitungsartikel die fleischliche
Lust als unerlaubt darstellte, so begriff er
das vollkommen; das war klar und be-
stimmt: es ist verboten — basta!

In einer Erlaubnis oder Genehmigung
war für ihn immer ein zweifelhaftes
Element verborgen, etwas Unausge-
sprochenes, Unbestimmtes. Wenn die
Einrichtung einer Lese- oder Theehalle
oder die Bildung eines dramatischen
Cirkels in der Stadt genehmigt wurde,
schüttelte er immer den Kopf und sagte
leise:

»Ja, ja, natürlich! Das ist ja schon
richtig! Das ist alles sehr schön! Wenn
nur nichts daraus entsteht «

Jede Art von Übertretung, von Ab-
weichen, von Umgehung einer Regel
versetzte ihn in tiefe Niedergeschlagen-
heit, selbst da, wo man meinen sollte,
die Sache gienge ihn gar nicht an. Wenn
einer der Collegen einmal zum Gottes-
dienst zu spät kam, wenn er von irgend-
welchen übermüthigen Streichen von
Gymnasiasten hörte, oder gar, dass
jemand eine Lehrerin abends mit einem
Officier hatte spazieren gehen sehen,
dann regte er sich immer schrecklich auf
und sagte: »Wenn da nur nichts daraus
entsteht!« Auf den Lehrer-Conferenzen
wirkte er niederdrückend auf uns alle
durch seine Vorsicht, sein Misstrauen,
durch seine geradezu futteralmäßigen
Erwägungen darüber, dass die Jugend im
Knaben- wie im Mädchen-Gymnasium
sich nicht gut aufführte, dass es in den
Classen sehr geräuschvoll hergieng, und
durch seine Furcht, dass die vorgesetzte
Behörde es erfahren könnte. »Ach, wenn
bloß nichts daraus entsteht! Es wäre
doch gut, den Petroff aus der fünften
und den Jegoroff aus der dritten Classe
aus der Schule zu verweisen!« Und richtig!
Mit seinen Seufzern, seinem Gewimmer,
seiner dunklen Brille und seinem winzig
kleinen Iltisgesicht übte er auf uns alle
einen Druck aus, und wir gaben nach,
gaben dem Petroff und dem Jegoroff
schlechtere Censuren für Betragen, schickten
sie beide in den Carcer und verwiesen
sie schließlich von der Schule.

Er hatte eine sonderbare Gewohnheit,
zu uns in unsere Wohnungen zu
kommen. Er erscheint bei einem Lehrer,
setzt sich hin und schweigt; gleichsam
als wollte er etwas erspähen, so sitzt er
schweigend stundenlang da und geht
dann wieder seines Weges. Das nannte
er »die guten Beziehungen mit den Col-
legen aufrechterhalten«. Dabei war es
ihm offensichtlich höchst unbequem, zu
uns zu kommen und bei uns zu sitzen;
aber er that es, weil er es für eine
Pflicht der Collegialität hielt. Wir Lehrer
hatten vor ihm Angst und selbst der
Director fürchtete ihn. Man sollte es
kaum für möglich halten; unsere Lehrer
sind doch alle vernünftige, denkende
Menschen, ordentliche, hochanständige
Naturen, sozusagen erzogen durch Tur-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 48, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-02_n0048.html)