Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 49

Der Mensch im Futteral (Tschechoff, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 49

Text

TSCHECHOFF: DER MENSCH IM FUTTERAL.

genjeff und Schtschedrin, und dennoch
hatte dieses armselige Menschlein, das
immer mit Schirm und Galloschen ein-
hergieng, das ganze Gymnasium fünfzehn
Jahre lang in seiner Hand! Und meinen
Sie, bloß das Gymnasium? Nein, die
ganze Stadt! Unsere Damen veranstalteten
an Sonnabenden keine Aufführungen von
Theaterstücken, aus Furcht, er könnte es
erfahren. Die Geistlichkeit fürchtete sich,
in seiner Gegenwart andere als Fasten-
speisen zu essen oder etwa an einem
Kartenspiele theilzunehmen. Unter dem
Einflusse solcher Leute wie dieser Belikoff
hatte man sich in unserer Stadt während
der letzten zehn bis fünfzehn Jahre vor
allem geängstigt. Man fürchtete sich, laut
zu sprechen, Briefe zu schreiben, Be-
kanntschaften zu machen, Bücher zu
lesen; man fürchtete sich sogar, Armen
zu helfen, Analphabeten schreiben und
lesen zu lehren «

Iwan Iwanowitsch, der etwas sagen
wollte, hustete erst, dann zog er ein
paarmal an seiner Pfeife und sah den
Mond an; endlich sagte er dann gedehnt:

»Ja, vernünftige, anständige Menschen!
Lesen Turgenjeff, Schtschedrin, Buckle
und allerlei anderes und haben sich doch
untergeordnet, ließen sich tyrannisieren!
Das ist’s ja eben.«

»Belikoff wohnte in demselben Hause
mit mir,« fuhr Burkin fort, »in derselben
Etage, Thür an Thür; wir sahen ein-
ander häufig und ich kannte sein pri-
vates Leben. Zu Hause war es ganz die-
selbe Geschichte: Schlafrock, Nachtmütze,
Fensterladen, Riegel, eine ganze Reihe
von Verboten und Einschränkungen jeder
Art, und — »Ach, dass nur nichts daraus
entstehe!« sein ewiger Refrain. Fasten-
speisen zu essen ist gesundheitsschädlich,
aber Fleisch zu genießen, das geht nicht;
es könnte jemand sagen, Belikoff hält die
Fasten nicht! Und so aß er Zander in
Butter, was zwar in den Fasten nicht
statthaft ist, aber auch nicht eigentlich
gegen die Bestimmungen verstößt. Weib-
liche Dienstboten hielt er nicht, aus
Furcht, dass man etwas Schlimmes von
ihm denken könnte. Er hielt sich nur
einen Koch, Athanasius mit Namen, einen
Greis von sechzig Jahren, der nicht bei
vollem Verstande und zudem ein Trinker

war. Er war einst Officiersbursche ge-
wesen und verstand einiges von der
Küche. Dieser Athanasius stand ge-
wöhnlich mit verschränkten Armen an
der Thür und brummte immer ein und
dasselbe mit tiefen Seufzern sinnlos vor
sich hin: »Heutzutage sind ihrer schon
zu viele geworden!«

Das Schlafzimmer Belikoffs war klein,
ein richtiger Kasten, das Bett mit Vor-
hängen versehen. Wenn er sich zur Ruhe
begab, bedeckte er sich bis über den Kopf;
es war im Zimmer heiß, eine Luft zum
Ersticken, gegen die geschlossenen Thüren
stieß der Wind, der auch im Ofen sauste,
und aus der Küche hörte man Seufzer,
unheilverkündende Seufzer.

Belikoff fürchtete sich unter seiner
Decke. Er fürchtete, »dass etwas passieren
könnte«, dass Athanasius ihm den Hals
durchschneide, dass Diebe einbrechen, und
dann sah er die ganze Nacht hindurch
schreckliche Träume. Am Morgen, wenn
wir zusammen ins Gymnasium giengen,
war er niedergeschlagen, bleich, und man
sah deutlich, dass das Gymnasium, in das
er sich begab, mit seinen vielen Insassen
ihm schrecklich, in tiefster Seele zuwider
war; ich fühlte, dass es ihm, dem seinem
Wesen nach einsamen Menschen, schwer
war, dass er neben mir einhergehen
musste.

»Es ist aber auch zu geräuschvoll bei
uns in den Classen,« sagte er dann,
gleichsam als sei er bemüht, eine Er-
klärung zu finden für das ihn beherrschende
Gefühl des Unbehagens; »das ist wirklich
nicht mehr schön!«

»Und dieser Lehrer des Griechischen,
dieser Futteral-Mensch, hätte sich beinahe
verheiratet; können Sie sich so etwas
vorstellen!«

Iwan Iwanowitsch warf einen raschen
Blick hinter sich in den Schuppen:

»Sie scherzen!«

»Nein, wirklich! Er hätte beinahe ge-
heiratet, wie seltsam es auch klingt. —
Wir bekamen einen neuen Lehrer für
Geschichte und Geographie, einen ge-
wissen Kowalenko, Michaïl Ssawitsch,
einen Kleinrussen. Er kam nicht allein
zu uns, mit ihm kam seine Schwester
Warinka. Er war jung, groß, brünett, mit
mächtig großen Händen, und man sah

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 2, S. 49, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-02_n0049.html)