Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 61

Der Mensch im Futteral (Forts. und Schluss) (Tschechoff, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 61

Text

TSCHECHOFF: DER MENSCH IM FUTTERAL.

den Schülern noch anderes übrig, als auf
dem Kopfe zu gehen! Da das aber durch
kein Circular verfügt ist, so ist es nicht
statthaft. Was nicht durch Verfügung er-
laubt ist, darf nicht geschehen. Ich ge-
rieth gestern in Schrecken. Als ich Ihre
werte Schwester so sah, da wurde es mir
ganz schwarz vor den Augen. Eine Frau
oder ein Mädchen auf dem Fahrrad! Das
ist schrecklich!«

»Was ist Ihnen eigentlich gefällig?«

»Nur das Eine will ich, Sie warnen!
Sie sind ein junger Mann, Michaïl Ssa-
witsch, die ganze Zukunft liegt noch vor
Ihnen. Da muss man sich sehr, sehr vor-
sichtig benehmen. So verschlagen Sie sich
sicher die ganze Carrière, und wie noch! Sie
gehen beständig in gestickten Hemd-
blousen einher; auf der Straße sieht man
Sie mit allerlei Büchern und nun noch gar
ein Fahrrad! Dass Sie und Ihre Schwester
radeln, erfährt zuerst der Director, dann
der Schul-Inspector wozu denn?«

»Dass ich und meine Schwester auf
dem Velociped fahren, das geht niemand
etwas an!« fuhr Kowalenko, hochroth im Ge-
sicht, auf, »und wer es wagt, sich in meine
häuslichen oder Familienangelegenheiten
einzumischen, den schicke ich zu allen
Teufeln.«

Belikoff wurde noch bleicher als zuvor
und erhob sich.

»Wenn Sie mit mir in diesem Tone
reden, so kann ich nicht fortfahren,« sagte
er; »ich würde Sie nur bitten, sich in
meiner Gegenwart bezüglich unserer Vor-
gesetzten niemals so auszudrücken! Von
der Obrigkeit haben Sie mit Ehrerbietung
zu sprechen.«

»Habe ich denn von der Obrigkeit
etwas Schlechtes gesagt?« fragte Kowa-
lenko wüthend. »Bitte, lassen Sie mich
in Ruhe! Ich bin ein anständiger Mensch
und mag mit einem Herrn wie Sie nicht
sprechen; ich mag keine Spione und
Angeber.«

Belikoff gerieth in nervöse Bewegung.
Er begann sich rasch anzukleiden. Sein
Gesicht trug den Ausdruck des Schreckens.
Es war das erstemal in seinem Leben,
dass er solche Grobheiten zu hören bekam.

»Sie können reden, was Sie wollen,«
sagte er, während er aus dem Flur auf
die Treppe hinaustrat. »Ich mache Sie

nur darauf aufmerksam, es kann uns
jemand gehört haben, und damit es
nicht weitergetragen und wer weiß, was
daraus gemacht werde, halte ich mich
verpflichtet, dem Herrn Director über den
Inhalt unserer Unterredung zu berichten
in den wesentlichen Punkten Das
muss ich.«

»Berichten? Marsch! Berichte!«

Dabei fasste Kowalenko Belikoff hinten
beim Kragen und gab ihm einen Stoß,
dass er die Stufen hinabflog, wobei seine
Galloschen knarrten. Die Treppe war
ziemlich hoch und steil; aber er kam
ganz wohlbehalten unten an. Er stand
auf und fasste nach seiner Nase, um
sich zu überzeugen, ob seine Brille
ganz geblieben sei. Gerade in diesem
Augenblick kam Warinka in Begleitung
zweier Damen nach Hause zurück;
während er die Treppe hinabrollte,
standen sie unten und sahen zu, und das
war für Belikoff schrecklicher als alles.
Lieber hätte er das Genick oder beide
Beine brechen mögen, als dass er zum
Gegenstande des Gelächters würde. Das
würde nun natürlich die ganze Stadt er-
fahren, der Director, der Schul-Inspector!
Herr Gott! Was sollte daraus werden!
Sicher wird man nun eine neue Caricatur
zeichnen und das Ende vom Liede: Man
wird ihm bedeuten, seinen Abschied zu
nehmen Als er sich aufrichtete, er-
kannte Warinka ihn, gewahrte sein
lächerliches Gesicht, seinen zerknitterten
Überzieher, seine Galloschen, und da sie
nicht begriff, was vorgefallen, sondern
meinte, er sei durch eigenes Versehen
zufällig heruntergefallen, so konnte sie
sich nicht länger zurückhalten und brach
in ein helles Gelächter aus, das im
ganzen Hause zu hören war.

Und mit dieser schallenden Lachsalve
war alles zu Ende, aus mit der Braut-
werbung Belikoffs und mit seinem irdischen
Dasein. Er hörte nicht mehr, was
Warinka sprach, sah nichts mehr, sondern
gieng geradenwegs nach Hause, beseitigte
zunächst das Porträt von seinem Tische
und dann legte er sich zu Bett, um nicht
mehr aufzustehen. Drei Tage später kam
sein alter Diener zu mir und fragte, ob
er wohl nach dem Arzt schicken solle;
mit seinem Herrn wäre etwas nicht in

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 61, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-03_n0061.html)