Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 63

Die Theosophin Annie Besant (Thomassin, Carl von)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 63

Text

DIE THEOSOPHIN ANNIE BESANT.
Von KARL VON THOMASSIN (München).

Es ist eine auffallende Thatsache, dass
die Frauen, denen eine hervorragende
Rolle in der theosophischen Bewegung der
letzten Jahrzehnte bestimmt war, fast alle
die eigenartigsten und schwersten Lebens-
schicksale hatten. So ist auch die Nach-
folgerin der Blavatsky wie diese erst in
ernstester Lebensschulung zur Propaganda
für die Theosophie gelangt.

Bemerkenswert ist jedoch anderseits
der Umstand, dass Annie Besant nicht,
wie ihre Vorgängerin in der Leitung der
theosophischen Bewegung in England,
durch psycho-physiologische Eigenart für
das transcendentale Gebiet im allgemeinen
bereits empfänglich war, dass sie im Gegen-
theil jahrelang eine begeisterte Anhängerin
des Materialismus war. So sind die beiden
vielgenannten Frauengestalten in gewisser
Hinsicht ähnlich und doch wieder ver-
schieden.

Annie Besant wurde im Jahre 1847
in London geboren. Ihr Mädchenname
war Annie Wood. Väterlicherseits ist sie
mit der Familie des Lord-Kanzlers Hatherley
aus Devonshire verwandt. Ihre Mutter,
namens Morris, war irländischer Ab-
stammung.

Schon mit fünf Jahren verlor sie ihren
Vater. Sie kam hierauf mit ihrer Mutter
nach Harrow, wo dieselbe eine Pension
für die Knaben des dortigen großen
Erziehungs-Institutes einrichtete.

Ihre Erziehung war eine sehr religiöse,
und sie betheiligte sich nach ihrer
Confirmation aufs eifrigste an den so-
genannten »Revival-Meetings«, jenen Ver-
sammlungen zum Zwecke der Wieder-
Erweckung religiösen Lebens, die in den
kirchlichen Kreisen Englands eine so große
Bedeutung gewonnen haben.

Anlässlich der Vorbereitungen zu einem
solchen in der Clapham Mission Chapel

lernte sie einen jungen Geistlichen, Rev.
Frank Besant, kennen. Sie fasste zu dem-
selben, zumal es schon seit einiger Zeit
ihr Wunsch war, einmal eines Geistlichen
Frau zu sein, große Zuneigung und ver-
mählte sich mit ihm im December des
Jahres 1867
. Er war damals Lehrer in
Cheltenham, erhielt aber bald darauf seine
Anstellung als Pfarrer zu Sibsey in
Lincoln.

Es dauerte nicht lange, so wurde das
gute Einvernehmen zwischen dem jungen
Paare durch politische Meinungsdifferenzen
gestört. Die junge Frau begeisterte sich
für den politischen Radicalismus in England
und für die irische Unabhängigkeits-
bewegung, während ihr Gatte streng
conservativen Ansichten huldigte. Noch
schlimmer wie diese politische Meinungs-
differenz sollte bald die religiöse wirken.

Die spätere Vorkämpferin der Theo-
sophie wurde, wie sie erzählt, durch eine
schwere Erkrankung eines ihrer beiden
Kinder — ihrer ehelichen Verbindung
war ein Knabe und ein Mädchen entsprossen
— an der »Vorsehung eines persönlichen
Gottes« irre, und bald regten sich in ihr
dann auch noch andere Glaubenszweifel,
so z. B. hinsichtlich der ewigen Verdammnis,
des stellvertretenden Leidens Christi oder
der Inspiration der Bibel.

Um ihre Zweifel los zu werden, gieng
sie nach Oxford zu Dr. Pusey, der bekannt-
lich für einen der gelehrtesten Theologen
der englischen Hochkirche galt. Derselbe
wies sie aber ihrer Behauptung zufolge in
so schroffer Weise ab, dass sie in ihrer
neuen Geistesrichtung nur noch bestärkt
wurde.*

Selbstverständlich konnte bei ihren
Anschauungen von einer Fortdauer ihrer
ehelichen Verbindung keine Rede sein.
Sie wurde bereits im Jahre 1873 ge-

* Hierüber Näheres in »Sphinx«, 1893 (Mai-Heft): »Annie Besant« von Hübbe-Schleiden
nach ihrer »Autobiography«, London. Theosoph. Publishing Co.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 63, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-03_n0063.html)