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zwungen, das Haus ihres Mannes zu ver-
lassen. Der Scheidungsprocess endete für
sie sehr ungünstig, obschon sie ihrem
Manne grausame Behandlung durch Zeugen
nachgewiesen hatte, und man verfolgte
sie lange Zeit, wie sie erzählt, mit den
gemeinsten Verleumdungen.
Nun wandte sie sich allmählich in
religiöser Hinsicht dem Atheismus und
in politischer Hinsicht dem Socialismus
zu. Nachdem sie sich von ihrem Manne
getrennt hatte, lebte sie noch ein Jahr
lang bei ihrer Mutter, bis dieselbe ihr
durch den Tod entrissen wurde. Um ihr
einen letzten Wunsch zu erfüllen, willigte
sie ein, mit ihr noch einmal das Abend-
mahl zu nehmen, das ihr auch der weit-
herzige Decan Stanley trotz ihrer Ansichten
spendete, indem er meinte, »das Sacrament
des Abendmahls sei nicht deshalb eingesetzt
worden, um Herzen, die den einen Gott
im Geist und in der Wahrheit ernstlich
suchten, von einander zu trennen, und
der Stifter des Abendmahls habe damit
ein Sinnbild der Vereinigung, nicht des
Streites eingesetzt«.
Nach dem Tode der Mutter begann
für Annie Besant eine schwere Zeit. Sie
wusste oft nicht, wie sie sich die noth-
wendige Nahrung für sich und ihre Tochter,
die man ihr zugesprochen hatte, verschaffen
sollte, und blieb oft tagelang hungernd
im »Britischen Museum«. »Jene Zeiten,«
so sagte sie später, »lehrten mich das
Mitleid mit allen, die kämpften wie ich
kämpfte, und niemals höre ich von bleichen
Lippen die Worte: »Ich bin so hungrig«,
ohne zu bedenken, wie der Hunger schmerzt,
und ohne ihn wenigstens momentan zu
stillen.«
Endlich, im August 1874, gelang es
ihr, in der Redaction des »National
Reformer« durch Charles Bradlaugh, den
bekannten englischen Freidenker, der ihr
bis zu seinem Tode ein aufrichtiger Freund
blieb, eine Anstellung zu erhalten.
Sie wurde sodann unter dem Pseudonym
»Ajax« als Schriftstellerin in den weitesten
Kreisen bekannt; überdies bewies sie ein
so großes Rednertalent, dass sie bald für
regelmäßige Vorträge in der »Secular
Union«, der englischen Freidenker-Gesell-
schaft, ausersehen wurde. Ihre Reden
fanden dann auch im Buchhandel großen
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Absatz. So wurde z. B. eine Rede, die
sie im Jänner 1875 in der South-Place
Chapel über »Die wahre Grundlage der
Sittlichkeit« hielt, in 70.000 Exemplaren
verkauft. Von Interesse ist, dass sie be-
hauptet, durch einen merkwürdigen Zufall
schon im Jahre 1873 auf ihre Rednergabe
aufmerksam geworden zu sein. Im Früh-
jahre übte sie sich, so erzählt sie, gerne
allein ohne Bälgetreter in einer Kirche im
Orgelspiel. Eines Tages nun wurde sie
in der Kirche, in welcher sie zu lange
geblieben war, eingeschlossen. In ihrer
Einsamkeit kam sie nun auf die Idee,
die Kanzel zu besteigen und zu probieren,
ob sie eine Rede halten könne. Ihr Versuch
gelang so vortrefflich, dass sie dadurch
eine wahre Begeisterung für öffentliches
Auftreten als Rednerin gewann.
Eine Zeitlang trat sie insbesondere
auch für den viel umstrittenen Neu-
Malthusianismus ein, vertheidigte anfangs
die Broschüre des Dr. Knowlton hierüber,
mit der Nebenabsicht, für die Rede- und
Pressfreiheit in England zu wirken, und
schrieb sodann selbst eine Broschüre über
das Thema: »Das Gesetz der Bevölkerung,
seine Folgen und das richtige Verhalten
der Menschen zu demselben«. Dieselbe
wurde in kurzer Zeit in England in
100.000 und in Amerika in 110.000 Exem-
plaren verkauft. Die Verfasserin gab aber
durch diese Publication Veranlassung zu
neuen Verleumdungen und Anfeindungen;
und so gelang es schließlich dem Anwalt
ihres Mannes, durchzusetzen, dass ihre
Tochter ihrer Pflege entzogen und wieder
zu ihrem Vater gebracht wurde.
Nach und nach wurden die politischen
Anschauungen der nachmaligen Theosophin
immer radicaler, so dass sie sogar zu
Charles Bradlaugh in Gegensatz gerieth.
Nachdem sie sodann in der »Law and
Liberty League«, dem »Gesetz- und Frei-
heitsbunde«, hervorragend gewirkt hatte,
publicierte sie mit ihrem neuen Freunde
William T. Stead, dem nunmehr all-
bekannten Herausgeber der »Review of
Reviews«, das Fife Penny-Blatt »Link«,
und entfaltete, namentlich bei dem Strike
der Zündholzarbeiterinnen und der Dock-
arbeiter im Jahre 1889, eine lebhafte
Thätigkeit im Sinne des Socialismus. Sehr
energisch vertrat sie auch ihre Reform-
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