Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 66

Die Theosophin Annie Besant Brief aus Paris (Thomassin, Carl vonGourmont, Remy de)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 66

Text

GOURMONT: BRIEF AUS PARIS.

Lebens gegeben und unter anderem auch
prophezeit hat, dass sie als eine große
Religionsstifterin gelten werde.

Letztere Prophezeiung scheint sich
nun allerdings nicht erfüllen zu können,
denn weder Mme. Blavatsky noch Annie
Besant haben jemals daran gedacht, als
Religionsstifterinnen aufzutreten. Die Theo-
sophische Gesellschaft hat niemals den
Charakter einer eigentlichen Religions-
gemeinschaft gehabt und wird ihn nach

ihren Principien wahrscheinlich auch
niemals erhalten können; sie will keine
Dogmen aufstellen, sondern jedem Mit-
glied möglichst Denkfreiheit gewähren,
wie es in ihrem Programm heißt.

Immerhin hat sich aber Annie Besant,
wenn nicht als Religionsstifterin, so doch
als eine der begabtesten und erfolg-
reichsten Vorkämpferinnen der mystischen
Bewegung am Ende des Jahrhunderts,
ein dauerndes Andenken gesichert.

BRIEF AUS PARIS.
Von REMY DE GOURMONT (Paris). VILLIERS DE L’ISLE-ADAM UND DIE »HISTOIRES SOUVERAINES«*

Villiers de l’Isle-Adam ist einer
der größten französischen Prosaisten dieses
Jahrhunderts. Man stellt ihn Chateau-
briand, Victor Hugo und Flaubert
gleich. Aber Flaubert mit Villiers ver-
gleichen heißt etwa: zwischen Buffon
und Jean Jacques Rousseau eine Parallele
ziehen. Wir kommen da auf den Gegen-
satz, der das leidende Genie (génie patient)
von dem leidenschaftlichen Genie (génie
passionné)
trennt.

Villiers de l’Isle-Adam war ein leiden-
schaftlicher Ironiker; und gerade diese
ironische Leidenschaftlichkeit scheidet ihn
von der hochfahrenden Leidenschaftlichkeit
eines Chateaubriand und von der lyrischen
Leidenschaftlichkeit eines Victor Hugo.
Diese Ansicht, die heute nur ein aus-
erlesener Kreis theilt, wird morgen schon
die Meinung des literarischen Europa
sein. Das letzte Land aber, das den
Autor von „L’Intersigne“ (ein vollendetes
Meisterwerk!) gerecht beurtheilen wird,
muss nothwendigerweise Frankreich sein.

Wiewohl bretonischen Ursprungs —
er trug alle physischen Zeichen eines
Bretonen von Armorica an sich — ver-
rieth Villiers (man weiß nicht, durch
welchen Atavismus) eine durchaus germa-
nische Intelligenz. Nur die Ironie, und

diese allein, knüpfte ihn an seine Rasse;
wie das keltische Irland England einen
Swift geschenkt, so gab die keltische
Bretagne Frankreich einen Villiers. Aber
die keltische Ironie oder die germanische
Verträumtheit sind trotz ihrer romantischen
Kraft nicht eben willkommen in unserem
Lande, das ja stets bemüht war, aus
jedem seiner Kinder einen literarischen
Sclaven der Latinität zu machen und die
mittelmäßigen und wägbaren Qualitäten
der römischen Kaiserzeit als das Ideal
des ewigen Humanismus hinzustellen. Ein
Deutscher in seinem „Axël“, ein Kelte
in seinen „Contes Cruels“, führte Villiers
die Frauen irre, die über Popularität ver-
fügen, und die Gelehrten irre, die über
Reputation verfügen. Er nimmt nicht für
sich ein — und jedenfalls nicht auf den
ersten Schlag. Die Truppe seiner Be-
wunderer ist so beschränkt an Zahl, dass
eines seiner Haupt- und Meisterwerke:
Tribolat Bonhomet“, kaum veröffentlicht,
von seinem Verleger als Maculatur an
Papierhändler verkauft werden musste.
Er erlangte Ruhm (weder die Frauen
noch die Gelehrten vereitelten dies), ohne
jemals auch nur eine Stunde in seinem
Leben berühmt gewesen zu sein. Auch
sein Name, der so wenig demokratisch

* Verlag Edm. Deman, Brüssel.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 3, S. 66, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-03_n0066.html)