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gefühl, das seine Persönlichkeit erregte,
nicht mehr empfinden und begreifen zu
können; ihm blieb nur der große, wenn
auch vielfach räthselhafte Maler übrig,
von dem er nur bedauern konnte, dass
er so viel Zeit und Kraft auf unfruchtbare
Tüfteleien verschwendete und seine eigenen
Meisterwerke durch sinnlose Experimente
schädigte. Aber ganz anders reden schon
einige gleichzeitige Stimmen, wenn sie
Lionardo das gleiche, aber viel bitterer
und gehässiger, vorwerfen; ganz anders
klingt, was oben von dem Verhalten der
römischen Kunstkreise berichtet wurde,
und nur das Bewusstsein des tiefsten
Zwiespalts mit dem Wollen und Handeln
der Zeitgenossen kann es gewesen sein,
das schließlich Lionardo unter die
Barbaren, nach Frankreich trieb. Das
Schicksal seiner Werke, die zum Theil
noch in der ersten Hälfte des XVI. Jahr-
hunderts, nicht bloß durch Zufall, sondern
auch durch Unachtsamkeit zugrunde giengen
oder aus Italien fortgeführt werden konnten,
das rasche Verklingen seines Namens,
den schon Schriftsteller der nämlichen
und nächsten Generation nicht mehr bei
der so beliebten Aufzählung der größten
Meister nennen, all das weist auf dieselbe
Grundstimmung einer tiefen Befremdung
hin, welche die Renaissance ihrem größten
Zeitgenossen gegenüber empfand. Als der
Cardinal von Orwagon, ein Italiener,
Lionardo im Exil auf Schloss Cloux be-
suchte, hat ein italienischer Herr aus dem
Gefolge dieses merkwürdige Ereignis,
vielleicht den letzten Gruss, den der dem
Tode Nahe mit seiner Heimat tauschte,
schriftlich aufbewahrt; und er weiß in
seinem Berichte nur von einem »Messer
Leonardo aus Mailand, der einst ein sehr
guter Maler gewesen«. Nicht so hätte er
von dem alten Michelangelo oder auch
nur von Giulio Romano gesprochen. Aber
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er wusste wohl kaum mehr, wer dieser
Lionardo war.
Unsere Zeit erst, und gerade die
jüngste wiederum, hat sich mit leiden-
schaftlichem Interesse der räthselhaften
Persönlichkeit dieses seiner Zeit so Fremd-
gewordenen zugewandt und forscht mit ge-
spannter Neugierde in den widerspruchs-
vollen, verschlossenen Zügen seiner künst-
lerischen Physiognomie, die wohl noch
schwerer zu entziffern sind als seine
Manuscripte, deren Zugang er in hoch-
müthigem Trotz verwehrte. Aber auch
wir, ob wir nun der »Jungfrau in
der Felsengrotte« gegenüberstehen oder
unseren Blick in die Tiefen des Lächelns
der »Mona Lisa« versenken oder die
honigsüße Heiterkeit der »Heiligen Anna
mit Mutter und Kind« einschlürfen, auch
wir können ein Letztes, unauflöslich
Räthselvolles und Fremdartiges — das
französische Wort »étrange« scheint mir
hier noch bezeichnender — nicht aus
unserem Gefühl verdrängen, wir können
einen Rest von Unverstandenem, Irratio-
nalem nicht beseitigen, einen schillernden,
flüchtigen, nicht zu fassenden Glanz, der
wie ein Sonnenblick über der dargestellten
Wirklichkeit und über der Wirklichkeit
der Darstellung liegt, nicht festhalten.
Das geht weit über die selbstverständliche,
schon zum Gemeinplatz gewordene Er-
kenntnis, dass jedem Kunstwerk zuletzt
doch etwas Unmessbares, mit dem Ver-
stande nicht zu Fassendes zugrunde liegt,
hinaus. Jeder wird verstehen, was ich
meine, der nur einmal in selbstvergessenem,
vergrübelten Träumen vor einem der
Werke, die ich eben nannte, gestanden ist.
Auch uns also ist Lionardo noch der
fremde Künstler, um wie vieles wir ihn auch
besser verstehen als seine Zeitgenossen.
Und ich wage zu behaupten, dass er es
immer bleiben wird.
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