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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 86

Text

SACHS: LIONARDO DA VINCI.

Lionardo, scheint mir die Frage: Wie
war es möglich, dass sich seine Stellung
zu den zeitgenössischen Künstlern so
widrig verschob? Ist es denn überhaupt
zu verstehen, dass sein Ansehen und sein
Ruhm mit den Jahren und mit der er-
reichten Reife nicht steigt, sondern im
Gregentheil immer geringer wird, bis zu
der traurigen Verbannung anlässlich jenes
römischen Kunstscandales? War denn
nicht Lionardo, der Universalmensch, die
Verkörperung des Ideals der Renaissance?
Und waren ihm denn nicht wirklich alle
Herzen im Sturme der Begeisterung zu-
geflogen, als er noch, jung, schön wie ein
Gott, von fürstlichem Glanze umgeben und
Herr und Meister jeglicher Kunst, durch
die Straßen von Florenz wandelte; gleich
im Anfang seiner Laufbahn der König
der heimatlichen Maler? Und hat sich
vielleicht die Zeit von ihrem Ideale später
abgewendet? Oder? Oder wollte das Ideal
nicht mehr — zeitgemäß sein und wendete
sich seinerseits ab?

Von vorneherein kann man den Neid,
den gemeinen Brotneid sowohl als den
edler benannten, den man Wetteifer
heißt, aus den Motiven der Feinde Lio-
nardos ausschließen. Sie hatten von ihm
überhaupt nichts zu besorgen. Lionardo
selbst dachte nicht mehr daran, in die
Arena zu treten, wie einst in Florenz, als
er den jungen Michelangelo gezwungen
hatte, sich ihm zu stellen; was er wollte,
war weder rasches Glück, noch lauter
Ruhm; nur Friede für sich und für seine
geheimen, wissenschaftlichen Arbeitspläne.
Und jene waren auch nicht die Männer
dazu, um irgend einen Mitbewerber zu
fürchten; gar damals noch zu fürchten,
wo sie schon so fest standen. Es muss
ein ehrlicher Widerwille gewesen sein,
den sie gegen Lionardo empfanden.
Raphael vielleicht am wenigsten; ihm war
möglicherweise Lionardo, der das inner-
lich Unwahre seiner jetzigen, ihm auf-
genöthigten, pathetischen Monumental-
malerei durchschauen mochte, nur unbe-
quem, aber er war ihm durch dankbare
Erinnerung jener unvergleichlich reichen
und fruchtbaren Stunden, die Lionardo
ihm in Florenz geschenkt hatte, ver-
bunden; freilich lässt sich der Antheil,
den des alten Meisters erneuerter Einfluss

an den beiden so plötzlich und fast un-
vermittelt erschlossenen Wunderblumen:
der sixtinischen Madonna für S. Sisto in
Piacenza und der heil. Cäcilia in Bologna
gehabt haben mag, nur vermuthen und
ahnen, aber nicht erweisen; und ander-
seits ist auch, dass er dem Geschmähten
thatkräftige Freundschaft bezeugte, nicht
bekannt. Michelangelo, der alte Gegner
Lionardos noch von Florenz her, der
schon damals bitteren persönlichen Hass
in die künstlerische Rivalität getragen
hatte, blieb sich jedenfalls in diesem
Hasse, wie in allen Dingen, stets ge-
treu.

Außer Raphael und Michelangelo gab es
noch sehr viele hochgeschätzte Maler in
Rom; und sie alle theilten dieselbe Em-
pfindung. So vollkommen lieblos und ver-
ständnislos, so feindlich und rein ver-
neinend stellt sich ein ganzer Kreis von
hohen und reichbegabten Menschen aber
stets nur gegen eine Erscheinung, die
ganz von dem ihnen gemeinsamen Grunde
der Denk- und Anschauungsweise los-
gelöst auftritt; die keinen noch so kleinen
Fleck bietet, an dem Verständnis, Ver-
ehrung, Bewunderung sich anheften könnte,
ohne abzugleiten; eine Erscheinung, die
innerhalb des Kreises, in den sie eintritt,
ganz — fremd ist.

War Lionardo der Renaissancekunst
fremd geworden?

Wer sich nur an Vasari hält, um
zu erfahren, wie die Zeitgenossen von
Lionardo dachten, wird leicht fehl gehen.
Bei aller Verehrung für Michelangelo,
dem er als eingeschworener Gefolgsmann
diente, meinte es Vasari doch viel
zu ehrlich mit der Kunst und hatte
noch einen viel zu guten Begriff von
ihr, um nicht Lionardo, soweit das
von seinem beschränkten Standpunkte
aus möglich war, zu schätzen und zu
preisen. Nur freilich darf man sich durch
den gewohnheitsmäßig lobpreisenden Ton
des Biographen, bei dem »göttlich« ein
gewöhnliches Epitheton, Apelles und Zeuxis
ein stets wieder hervorgeholter Maßstab
sind, nicht irreführen lassen und darf
auch nicht vergessen, dass Vasari zeitlich
schon von der Periode, die Lionardo
unter den Lebenden und Schaffenden
sah, weit genug abstand, um das Miss-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 86, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0086.html)