Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 91

Die Philosophie des Giordano Bruno I. (Kuhlenbeck, Ludwig)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 91

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KUHLENBECK: DIE PHILOSOPHIE DES GIORDANO BRUNO.

Ewiger Kreislauf des Stoffes und Wechsel
der Aggregat-Zustände bilden das allge-
meinste Schema des kosmischen Lebens.
Bruno kennt vier Dichtigkeitsgrade der
Materie: das Feste (terra), das Flüssige
(acqua), das Gasförmige (aër) und das
Ätherische (aether oder ignis).

Durch Zustands-Änderungen der einen
All-Materie, durch Verdichtung aus dem
Äther hat sich der Kosmos mit seinen un-
zähligen Welten entwickelt. »Es gibt nur
einen Himmel, nur einen unermess-
lichen Weltraum, nur einen Schoß,
nur ein universell Zusammenhängendes,
nur eine Ätherregion, durch welche das
Ganze sich regt und bewegt. In dieser
gelangen unzählige Sterne, Gestirne, Welt-
kugeln, Sonnen und Erden sichtbar zur
Erscheinung und berechtigen zu dem
Vernunftschlusse auf unzählige andere.
Von diesen Gestirnen ist keines in der
Mitte, denn das Universum ist nach allen
Seiten gleich unermesslich. Es gibt so
viele Mittelpunkte der Welt, als es Ge-
stirne, ja als es Atome gibt, nämlich
an Zahl unendliche. Alle die Gestirne
sind für sich selbst Individuen, Monaden,
organische Einheiten, auch wenn sie im
Verhältnis zu größeren Welt-Individuen
nur Theile, Organe, nur veränderliche
Stücke der Zusammensetzung sind. Diese
Riesen-Organismen bestehen alle aus den-
selben Elementen. Es wirken folglich in
denselben auch die nämlichen, uns be-
kannten Kräfte, freilich je nach der diesen
Lebewesen eigenen Composition«. Man
wird aus diesem kurzen Satze schon er-
kennen, dass es unbillig wäre, Bruno als
einen bloßen Schüler des Kopernikus und
als Anhänger der kopernikanischen Welt-
anschauung im genaueren Sinne abzu-
fertigen. Kopernikus schloss bekanntlich
mit der mathematischen Construction
unseres Planetensystems ab und ließ
jenseits desselben den unbeweglichen Fix-
sternhimmel unberührt. Dem Nolaner
müssen wir die Ehre zuerkennen, der
erste gewesen zu sein, der die Sonnen-
natur der Fixsterne, die Existenz unsicht-

barer Planeten, und, wie seine Bücher
del Infinito und de Immenso an zahlreichen
Stellen zeigen, die Universalität der irdi-
schen Naturgesetze, die Gleichheit der
kosmischen Stoffe, die Mehrheit bewohnter
Welten, ja sogar den Entwicklungsprocess
des Weltalls, wie er von Kant und
Laplace dargestellt wird, voraus er-
kannt und deutlich in systematischem
Zusammenhange vertreten hat.

Das Bewunderungswürdigste aber an
Brunos Genie ist nicht sowohl diese, in
unserem Jahrhundert erst zum wissen-
schaftlichen Gemeingut gewordene Kos-
mologie im allgemeinen, als vielmehr die
richtige, auf Grund derselben von ihm
getroffene deductive Bestimmung zahl-
reicher einzelner Naturthatsachen, unter
denen ich als zweifellose Erstlingssätze in
seinen Werken nur folgende hervorhebe:
Die Rotation der Sonne um ihre Axe,
die Abplattung der Erde an ihren Polen
und ihre nur annähernde Kugelgestalt,
die richtige Erklärung der Präcession und
Nutation (des Fortschreitens der Nacht-
gleichen). »Bei der unabsehbar mannig-
faltig in einander greifenden Anziehung
und Abstoßung der Weltkörper kann es
nicht ausbleiben, dass auch die scheinbar
festesten Punkte im All nach und nach
ihre gegenseitige Lage verschieben. Die
Erde wird also ihren Schwerpunkt und
ihre Stellung zum Pol verändern.«

Nicht wenig interessant ist eine Schluss-
folgerung, die Bruno aus dieser, nach
seiner Überzeugung sich stetig ändernden
Axenstellung der Erde auf den Wandel
geologischer und klimatischer Verhältnisse
macht. Den alten heraklitischen Satz,
dass wir nicht zweimal in denselben
Strom tauchen können, dass jedes Einzel-
wesen sich in stetiger Änderung befindet,
wendet er auch auf das äußere Ange-
sicht der Erde an, von dem er überzeugt
ist, dass im Laufe der Zeit jeder Punkt
einmal einen Polarpunkt bilden, aber auch
einmal auf dem Äquator liegen, ferner
einmal Festland, aber auch einmal Meeres-
boden sein muss.

Artikel II im nächsten Hefte.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 4, S. 91, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-04_n0091.html)