Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 132

Theater-Abend Sigbjörn Obstfelder (Altenberg, PeterMenkes, Hermann)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 132

Text

MENKES: SIGBJÖRN OBSTFELDER.

möglich, sie kann es noch nicht sein,
bedenke doch, es ist nicht möglich!«

Manchesmal sagte ich zu ihm:
»Unsere schöne, gute Herrin — — —!«

Er war direct krank vor Sehnsucht,
wandte den Kopf nach mir um:

»Kommt sie oder kommt sie nicht?!«

»Sie kommt, sie kommt — — —«
erwiderte ich.

Einmal gab er den Posten auf, kam
zu mir heran, legte seine Pfoten auf
meine Knie und ich küsste ihn.

Wie wenn er zu mir sagte: »Sage
mir doch die Wahrheit, ich kann alles
hören!«

Um 10 Uhr begann er zu jammern.

Da sagte ich zu ihm: »Ja, glaubst
du, mein Lieber, dass mir nicht bange
ist?! Man muss sich beherrschen!«

Er hielt nichts auf Beherrschung
und jammerte.

Dann begann er leise zu weinen.

»Kommt sie oder kommt sie nicht?!«

»Sie kommt, sie kommt — — —.«

Er legte sich nun ganz platt auf
den Boden hin und ich saß ziemlich
zusammengebückt auf meinem Sessel.

Er jammerte nicht mehr, blickte zur
Eingangsthüre, während ich vor mich
hinsah.

Es war ¼12.

Da kam sie. Mit ihren süßen, sanften,
gleitenden Schritten kam sie, ganz ruhig

und gelassen, begrüßte uns in ihrer
milden Art.

Der Pudel jauchzte, sang und
sprang.

Ich aber nahm ihr den seidenen
Mantel ab und hängte ihn an den Haken.

Dann setzten wir uns.

»War euch bange?!« sagte sie.

Wie wenn man sagte: »Wie befinden
Sie sich, mein Bester?!« Oder: »Ihr
ergebener N. N.!«

Dann sagte sie: »O, im Theater
war es wunderbar — — —!«

Ich aber fühlte: Sehnsucht, Sehn-
sucht, die du aus den Herzen der
Menschen und der Thiere strömst und
strömst und strömst, wohin begibst du
dich denn?! Verflüchtigst dich vielleicht
ins Weltall, wie Wasser in Wolken?!
Wie die Luft von Wasserdunst erfüllt
ist, muss die Welt von Sehnsuchten
erfüllt und schwer sein, die kamen und
keine Seele fanden, die sie aufnahm! Was
geschieht mit dir, Bestes, Zartestes im
Leben, Sehnsucht, wenn du nicht auf
Seelen triffst, die dich in sich einsaugen,
gierig, dich verwerten zu eigener
Kraft?!?

Sehnsucht, Sehnsucht, die du von
Mensch und Thier ausströmst in die
Welt, ausströmst, ausströmst, wohin
begibst du dich denn?!?

SIGBJÖRN OBSTFELDER.
Von HERMANN MENKES (Brody).

Wie die alten Romantiker sich auf die
Suche nach der blauen Blume machten,
so ist es unsere Sehnsucht, die alten
Dinge unserer Umgebung und die wenigen
Möglichkeiten des Lebens in unserer
Weise auszudrücken. In unserer Weise,
d. h. aus unseren Seelenzuständen heraus;
denn es gibt tausend Dinge, die wir mit
unseren überwachen, morbiden Sinnen
erst entdeckten. Alles Alltägliche ist
gleichsam für uns neu geworden; es ist
über den Frühling und die Dämmerung,

über die Bäume und die wechselnden
Lichter unserer einsamen Stube noch nicht
alles gesagt worden; von der Liebe wurde
in zu großen, fremden Worten gesprochen,
und unsere Schmerzen sind in tausend
Differenzierungen zerfallen.

Die moderne Romantik ist ohne Herois-
mus, aber voller Zärtlichkeit. Vom Alltag
sind die Schleier gefallen, und wir sehen
tausend Dinge, die unsere Liebe umfasst.
Bedeutsamer ist unser kleines Schicksal
geworden, räthselvoller das Leben, für

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 132, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-06_n0132.html)