Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 133

Sigbjörn Obstfelder (Menkes, Hermann)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 133

Text

MENKES: SIGBJÖRN OBSTFELDER.

das man eine Lösung zu finden gewähnt.
Aber indem wir uns und unsere Umgebung
mit schärferem Auge geprüft, haben wir
die vielen Gespenster vertrieben, die in
allen Momenten unseres Daseins ihr Un-
wesen getrieben. Wie sollen wir noch er-
schrecken können, da wir unsere eigenen
Abgründe gesehen! Ja, wir haben es er-
lernt, über Abgründe zu schreiten mit dem
Lächeln unserer Ironie, unserer stillen
Resignation. Es ist sehr viel von dieser
stillen Trauer in uns gekommen, aber wir
sind an Schönheit reicher geworden. Und
wenn wir auch arm an Thatkraft sind,
so haben wir doch erhöhten Muth zu
unserer Persönlichkeit gefasst. Wir schämen
uns unserer endlich erlösten Subjectivität
nicht mehr. Wir selbst sind es, die wir
durch unsere Dichtungen gehen, und das
einzige Weib unseres Schicksals. Denn wir
mussten uns selbst ja erst entdecken.
Heine, Jacobsen und Nietzsche stehen an
der Pforte dieser Dichtung; sie haben
den »einsamen Menschen« entdeckt und
sie haben ihm Worte gegeben, die wie
reife Herbstfrüchte sind das Letzte
und Schönste eines Sommers ist in ihnen.
Aber dennoch ist es, als ob diese unserer
jungen Generation bereits etwas angewelkt
erscheinen. Heines Lachen erscheint zu
laut, und aus seinen Thränen blickt zu-
weilen der Clown heraus. Jacobsen ist
uns noch zu wortreich und sehr kokett
in seiner Ironie, und Nietzsche hat das
Weib nicht gekannt; er hat dafür noch
den Hass seiner Zeit.

Wir sind schamhafter geworden
dieser und jener Auserlesene, dem das
Tiefste über sich zu sagen gegönnt war,
sprach es in zaghaften, zarten Tönen aus
und gleichsam mit geschlossenen Augen.
Es ist wie ein Erröthen vor der eigenen
Schönheit.

Sigbjörn Obstfelder ist einer von den-
jenigen der jüngeren norwegischen Litera-
tur, die über die subjectivste Note ver-
fügen. Er ist um einen Ton zarter, weib-
licher als der jüngere Krag. Es ist, als
ob eine zage, sich ihrer selbst kaum be-
wusste Mädchenseele in ihm dichten würde,
so scheu, herb und verwundert ist seine Ge-
berde. Er contrastiert seltsam zur strengen,

so durchaus intellectuellen Natur seines
Heimatsvolkes. In der Natur, die er liebt
und preist, ist nichts von den finster
ragenden Fjorden seines Landes. Er liebt
die Ebene, als ob er ihr Kind wäre, und
es ist auch viel von ihrer Stimmung in
seinen Gedichten. Auch sonst ist ihm die
ätzende Analyse und der Skepticismus
Garborgs fremd. Wohl hat auch er seine
Fragezeichen, aber sie sind gleichsam wie
eine Schrift auf überhauchten Scheiben.
Und weil er viele Dinge zum erstenmal
ausspricht, so werden sie ihm zu neuen
Problemen, zu denen er nur zaghaft eine
Lösung sucht. Seine Stimme klingt ge-
dämpft, wie ein leises Flüstern, wie das
Rascheln müder Blätter im Winde. Seine
tiefe, stille Sehnsucht ergeht sich in Mono-
logen, in kleinen Melodien.

Liest man das schmale Bändchen von
Novellen und Skizzen Obstfelders, das in
deutscher Sprache nun vorliegt,* so kann
man darnach leicht die psychische Be-
schaffenheit des Dichters nachzeichnen.
Aber man muss mit feinem Stift die
zartesten Linien ziehen. Es ist viel weiche
Hingabe und Zärtlichkeit in ihm, ja es
ist auch eine Art Pantheismus in seinem
Verhältnis zum Weibe. Er liebt die
stillen Gassen der Großstadt, die kranken
Stadtbäume, die stille, ärmliche Vorstadt,
wo die Menschen mit gesenkten Ge-
sichtern herumgehen, »Menschen, die etwas
von den Asseln haben, die unter den
Steinen leben«. In seinem ganzen Wesen
ist viel von der Stille und der Traum-
haftigkeit jener Gassen, und in seinen
Gedanken lebt das Rauschen dunkler
Forste und die Einsamkeit der Ebene,
von der er mit einer kranken Sehnsucht
träumt. Er ist beseelt von einer tiefen
Ehrfurcht für alle Dinge: für das Lächeln
eines Weibes, für den Traum eines Kindes,
für die Stille der Ebene. Das laute Leben
der Großstadt macht ihn krank und die
Lebensfreude, die er eine Dirne nennt.
Den todten Dingen verleiht er in seinem
weichen Pantheismus ein Stück Leben:
ein einsamer Baum wird ihm in der
Finsternis zu einem Märchen; er kann
lächeln und weinen. Der Sommer hält
Zwiesprache mit dem Herbst, und die

* »Novellen.« Deutsch von Tyra Bentsen. Berlin, B. Behrs Verlag, 1900.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 133, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-06_n0133.html)