Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 135

Sigbjörn Obstfelder Lionardo da Vinci (Schluss) (Menkes, HermannSachs, Otto)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 135

Text

SACHS: LIONARDO DA VINCI.

Diese Schwester begegnet uns in Obst-
felders Novellen; es ist das Weib, das er
in so einziger Weise definiert, er, der
Sehende unter den vielen, die mitdichten.
In »Kreuz« sagt Rebekka zum Geliebten:
»Du hast mich erschaffen«, und er fühlt,
dass etwas Frohes über ihn gekommen:
ihre Gedanken.

Was Obstfelder immer auch schreiben
mag, es liest sich stets, als ob es sein
eigenes Tagebuch wäre. Und er schreibt
wie einer, der keine Tradition und keine
Bücher kennt. Er hat keine Tradition;
er verfügt nicht über all die akade-

mischen Werte, die jetzt noch so gang-
bar sind; er schreibt scheinbar planlos;
bald gibt er scharfgeschaute Bilder und
bald dichtet er wie aus einer Vision
heraus. Seine Menschen sind wie die
Schatten theurer Erinnerungen ohne Erden-
schwere; das Gedicht unseres Lebens,
ein Extract unseres Daseins ist gleich-
sam in ihnen. Obstfelder ist, ich habe
es schon angedeutet, der Romantiker
des Alltags
. Diesen sieht und empfindet
er so sehr mit allen Sinnen, dass man
sagen kann, jeder Sinn habe bei ihm ein
Auge.

LIONARDO DA VINCI.
Von OTTO SACHS.

(Schluss des Fragments.)*

Taine hat in seiner »Philosophie de
l’art
« einen sehr schönen Versuch gemacht,
die Cultur- und Kunstepochen durch das
ihnen eigene Menschen-Ideal zu charakte-
risieren: das ist der Mensch, wie die
Zeitgenossen selbst Menschen sein und
wie sie Menschen sehen wollen, und
unersättlich immer wieder in höherer und
höherer Vollendung sehen wollen — und
zugleich auch der Mensch, für den die
Künstler einer Zeit im besten Sinne ge-
schaffen haben, dem sie gefallen wollen
und den zu befriedigen ihnen Zufrieden-
heit und Ehre bringt. Das Menschen-
Ideal einer Kunst entspräche sonach dem
Wunschbild des Publicums, aus dem heraus
und für das der Künstler arbeitet.

In diesem Sinne war das Ideal der
Renaissance — Jacob Burckhardt hat dies
schon längst für alle Zeiten giltig er-
wiesen — die nach allen Seiten frei und
rund entwickelte Persönlichkeit, die alle
ihre Fähigkeiten, welche Richtung immer

ihnen gegeben ist, auf den höchsten denk-
baren Grad gesteigert und bewusst aus-
gebildet hat und Freude, Glück und Ruhm
in dem ungefesselten, rücksichtslos nach
allen Seiten hin ausschlagenden Spiel ihrer
Kräfte findet. Zwei Züge bezeichnen vor
allem den Wunschmenschen der italieni-
schen Renaissance: er soll in jeder Be-
ziehung universell sein und er soll die
universellen Fähigkeiten, die er besitzt,
in leidenschaftlich bewegtem, thatenreichen
Leben, im Wirken unter Menschen, im
Werben um Genuss, Reichthum, vor allem
um Macht, zur Geltung bringen und ver-
werten.

Der junge Lionardo da Vinci stand,
kaum er als Zwanzigjähriger die Lehre
des Verrocchio verlassen und sich als
selbständiger Künstler in Florenz aufgethan
hatte, vor den staunenden und entzückten
Blicken seiner Zeitgenossen als das erfüllte
und leibgewordene Ideal der ganzen Epoche
da. Vielleicht der schönste Mann seiner

* Vgl. die Bemerkungen zu dem ersten Theil dieser Arbeit (»Wiener Rundschau«, IV. Jahrg.,
Nr. 4, S. 84 u. 100).

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 135, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-06_n0135.html)