Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 136

Lionardo da Vinci (Schluss) (Sachs, Otto)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 136

Text

SACHS: LIONARDO DA VINCI.

Zeit, von ungewöhnlicher Körperkraft, in
allen ritterlichen Übungen Meister, und
Meister auch aller geselligen Künste, die
den Vollendeten Cavalier zieren müssen;
als Maler, Bildhauer, vielleicht auch da-
mals schon als Baumeister und Ingenieur
gleich groß und Herr aller Kunst- und
Handwerksmittel; ein Musiker, der die
besten Berufsmusikanten von Mailand
wenige Jahre später im Wettkampfe schlug;
ein Dichter, der wohl so gut wie Einer
in der Vulgarsprache zierlich zu versificieren
wusste, was damals in Versen eher als
in Prosa einer verehrten Dame zu sagen
schicklich war. Dazu ein Lebenskünstler,
der durch die fürstliche Art seiner Führung
blendete und berauschte; selbst noch ein
Jüngling, und schon stets von einem
großen, prächtigen Gefolge umgeben, in
kostbaren Gewändern strahlend, Besitzer
der edelsten Rosse, der seltensten Hunde
und Falken, in seinem Alltags-Aufzug immer
schon ein Schauspiel, ein Festzug, wie
ihn der Geschmack der Zeit so liebte,
ein Augenschmaus für die verwöhnten
Florentiner Tagediebe. Und sie jubelten
ihm zu, wie einem jungen Gotte, wenn
er durch die Straßen zog und seiner Herren-
laune in rücksichtslosen Scherzen und
wilden Lustbarkeiten freien Lauf ließ.
Mit zwanzig Jahren war er der König der
Florentiner Künstler und damit aller ita-
lienischen Künstler überhaupt.

Gewiss war Lionardo damals selbst
im Banne der seiner Zeit eigenthümlichen
und ihm selbst, wenn nicht angeborenen, so
jedenfalls anerzogenen Lieblingsvorstellung
vom Menschen, wie er sein soll. Wir
können annehmen, dass er dieses über-
kommene Ideal mit jugendfeuriger Be-
geisterung ergriff und kühnen Muthes
daran schritt, sich selbst nach dessen Bilde
zu formen. Von Natur aus vielleicht der
begabteste Mensch, der jemals geboren
wurde oder von dem wir wenigstens
wissen, beschäftigte er sich von Anfang
an mit allem gleichmäßig und erreichte
ohne besondere Mühe den höchsten Grad
der Vollendung in jedem Ding, das er
lernen wollte; nicht weniger im Leben,
als in den Wissenschaften und Künsten.
Mit frohem, jugendlichem Erstaunen sieht
er Bich als Meister, bevor er sich noch
echt als Schüler gefühlt hat; steht er

auf dem Gipfel alles Erreichbaren zu einer
Zeit, da seine Gleichaltrigen eben erst
sich zum Aufsteigen rüsten. So hat er
wirklich in sich das Ideal der Renaissance
erfüllt und geschlossen; man kann kein
vollkommenerer Universalmensch sein, man
kann das freie Spiel der eigenen, aufs
höchste gesteigerten Kräfte nicht rück-
sichtsloser entfesseln und keinen unge-
bundeneren Genuss hierin finden, als der
junge Lionardo es that.

In einer so frühzeitigen, allseitigen
Vollendung liegt für jeden Menschen, und
besonders für den Künstler, eine gewaltige
Gefahr. Was leicht und fast ohne Kampf
erreicht worden ist, kann dem eigenen
Blick, wenn er messend und nach dem
Werte des Gewonnenen forschend darauf
ruht, wohl bald auch klein und nicht
mehr erstrebenswert erscheinen. So un-
geheure Gaben und Kräfte, wie sie in
Lionardo vereinigt lagen, verlangen nach Be-
schäftigung; ein gewisser Selbsterhaltungs-
trieb lehrt den so reich Begabten, dass er
seine Fähigkeiten in steter, harter Arbeit
halten, ihnen immer neuen Stoff der Be-
thätigung zuführen muss, wenn sie nicht
verkümmern sollen, wie ein Organ, das
nicht in Verwendung tritt. Es genügt dazu
aber nicht, immer wieder Das in gleicher, un-
übertrefflicher Vollkommenheit zu machen,
was man schon ein- für allemal, sozusagen
im Schlafe, kann. Es gibt einen Punkt,
über den hinaus man sich in der näm-
lichen Richtung nicht mehr selbst über-
treffen kann. Und sich der eigenen Voll-
endung und des eigenen, schöngeschaffenen
Lebens weiterhin arbeitslos zu erfreuen,
ist Weisheit bei einem Fünfzigjährigen,
der sich hart erkämpft hat, was er nun
genießen soll; bei einem Zwanzigjährigen,
der mühelos das alles schon besitzt, wäre
es eitle Geckerei gewesen.

Aus den angedeuteten seelischen Gründen
scheint es mir unzweifelhaft zu sein, dass
Lionardo, sobald er das Höchste, was seine
Zeit von ihm forderte, erreicht hatte, auch
schon an dem Werte des Errungenen,
an dem Glücke, das es ihm bringen würde,
zu zweifeln begonnen haben muss. Ich
kann hier natürlich nicht ein monologi-
sierendes, bewusstes Überdenken meinen,
das Lionardo etwa auf dem Wege der
Reflexion über sein bisheriges Ideal hinaus-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 136, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-06_n0136.html)