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geführt hätte — dergleichen lag überhaupt
in seinem Wesen nicht — und ein junger
Mann, mitten in vielseitiger Thätigkeit
und in einem rauschenden Genussleben,
wird gewiss immer am weitesten von
jeder grübelnden Selbstkritik entfernt sein.
Aber ich denke mir, dass ein inneres Un-
behagen vielleicht dem Unachtsamen zum
erstenmale die Bedürfnisse seiner Seele
vermittelt hat; dass ihn das gestörte Gleich-
gewicht seines Gefühls selbstthätig dazu
getrieben, einen neuen Zustand aufzusuchen,
der die verlorene Selbstzufriedenheit wieder-
bringen könnte; und dass sich so all-
mählich der eine Wunsch aus all dem
noch unbewusst Gährenden in seinem
Innern loslöste, zur Oberfläche stieg und
immer dringender Erfüllung heischte, jener
Wunsch, der die ersten Mannesjahre
Lionardos ausfüllt, der ihn nach Mailand
in die Dienste des Lodovico Sforza ge-
trieben hat: der Wunsch nach einer weiten,
ins Große wirkenden Thätigkeit, nach
praktischem Handeln und sichtbaren Er-
folgen.
Im Codex Atlanticus ist uns noch ein
Entwurf des Briefes erhalten, den Lionardo
da Vinci etwa 1463 an den Herzog von
Mailand schrieb, um ihm seine Dienste
anzubieten. In zehn verschiedenen Punkten
zählt er da seine Geschicklichkeiten und
Eigenschaften als Kriegs- und Friedens-
Ingenieur genau auf; erst am Schlusse ge-
denkt er auch seiner Künstlerqualität mit den
bekannten Worten: »Ich fühle mich jeder
künstlerischen Aufgabe gewachsen; sei es
ein Werk der Bildhauerei oder in Erzguss,
und auch in der Malerei bin ich bereit,
mit jedem, wer es auch sei, in die Schranken
zu treten und auszuführen, was man von
mir verlangt.« Es mag sein, dass Lionardo
Grund zu der Annahme hatte, Lodovico
il Moro werde durch die Aufzählung seiner
praktischen Verwendbarkeiten eher als
seiner anderweitigen Vorzüge sich zur Ab-
schließung eines dauernden Dienstver-
hältnisses angelockt fühlen. Aber dies
muss sich keineswegs so verhalten haben;
Lodovico war ein pracht- und kunstliebender
Herr, der damals schon bewiesen hatte
und später noch mehr bewies, dass er
einem aufs Größte gerichteten Künstler
ein nicht verächtlicher Gönner und Auf-
traggeber sein konnte. Andererseits, wenn
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es Lionardo vor allem um künstlerische
Bethätigung zu thun war, hätte er ebenso-
gut in Florenz bleiben, einen kleinen
mittelitalienischen Hof oder endlich Rom auf-
suchen können, wo damals, namentlich
bei den Fresken der sixtinischen Kapelle,
mehr als Ein Florentiner Maler aus-
reichende und ehrenvolle Beschäftigung fand.
Es hindert uns also nichts, anzunehmen,
vielmehr weist alles darauf hin, dass es Lio-
nardo, als er sich um den Ruf nach Mailand
bewarb, vor allem um einen Fürsten zu
thun war, der über genügende Machtmittel
gebot und auch gewillt oder in gewisser
Beziehung selbst genöthigt war, einem
tüchtigen Manne zur Entfaltung und prak-
tischen Bewährung seiner mechanischen,
technischen und architektonischen Kennt-
nisse und Fertigkeiten, zur Ausführung
großer, auf lange Dauer berechneter Ar-
beiten, zur Erzielung sichtbarer Erfolge
und Wirkungen Gelegenheit zu bieten.
Dies war aber bei Lodovico allerdings viel-
leicht mehr als bei irgendeinem italienischen
Fürsten dieser Zeit der Fall. In der That
hat auch Lionardo nebst anderen, minder
wichtigen Arbeiten dieses Faches sehr
große und umfassende Entwässerungs- und
Regulierungs-Arbeiten in der lombardischen
Tiefebene ausgeführt oder entworfen, deren
Ergebnisse heute noch segensreich fort-
wirken und denen kein geringer Antheil
daran zukommt, dass bei aller märchen-
haft üppigen Fruchtbarkeit diese Gegenden
von den gesundheitsgefährlichen Übel-
ständen solcher tiefgelegener Überschwem-
mungsgebiete verhältnismäßig wenig zu
leiden haben. Wenn Lionardo da Vinci
Glück und Zufriedenheit in solch groß-
zügigem Wirken zu gemeinem Nutzen
auf weite Zeiträume hinaus finden konnte,
so war er in Mailand an den rechten Ort
gekommen.
Aber es ist zweifellos, dass Lionardo
nicht diese Zufriedenheit, nicht dieses
Glück gesucht hat. Ihn hat wohl nach
Mailand ein unbestimmter Drang, ins Große
zu schaffen und zu wirken, getrieben, der-
selbe Drang, der ihn schon in Florenz
jenen phantastischen und doch selbst den
technisch ganz ungebildeten Zeitgenossen
bei aller Unmöglichkeit so klar ausführbar
scheinenden Plan zur Höherlegung der
S. Maria Novella, zum Canalbau Florenz—
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