Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 138
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Pisa u. a. finden ließ, von denen Vasari |
Zwange, langsam, in stetem Widerstreben, Das, was Lionardo von der Mailänder Und er erschlug es — und befreite |
* Wann sich in Lionardo diese große Wandlung vollzogen haben kann, lässt sich mit
einiger Genauigkeit nicht einmal vermuthen. Auch ist die Zahl seiner Werke, die uns
erhalten
sind, zu gering, als dass an ihnen eine fortschreitende Änderung seiner Art studiert
werden
könnte wie bei anderen Künstlern, die jeder Wendung ihres Entwicklungsganges ein Kunst-
werk als Denk- und Merkstein gesetzt haben. Und es wäre gewiss grundfalsch, sich überhaupt
mit der Vorstellung einer plötzlichen, gleichsam theatermäßigen Veränderung, eines
effectvollen,
vom üblichen Donnern und Blitzen begleiteten Scenenwechsels abzugeben. Alle großen
Er-
eignisse, und sonderlich die seelischen, vollziehen sich leise und allmählich, und
selbst wo sie
mit Krampf-Erscheinungen und Krisen auftreten, markieren sie nur den Augenblick, wo
etwas
längst Vorhandenes in die äußere Welt hinaustritt. Gewiss liegt schon in der »Jungfrau
in
der Felsengrotte« aus der ersten Florentiner Zeit ein gutes Stück des späteren Lionardo;
gewiss gilt in gewissem Sinne auch von ihm das Hebbel’sche Wort: »Was Einer werden
kann,
das ist er schon«. Aber die endgiltige Entfremdung Lionardos von den Idealen seiner
Zeit
scheint erst gegen das Ende seines ersten Mailänder oder zu Beginn seines zweiten
Florentiner
Aufenthaltes vollzogen zu sein, also um die Wende des 15. Jahrhunderts, und als Lionardo
selbst dem fünfzigsten Jahre seines Lebens schon zuschritt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 138, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-06_n0138.html)