Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 138

Lionardo da Vinci (Schluss) (Sachs, Otto)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 138

Text

SACHS: LIONARDO DA VINCI.

Pisa u. a. finden ließ, von denen Vasari
spricht. Und weiter handelte es sich ihm
wohl vor allem darum, von Florenz, dessen
politisch aufgeregte, von fortwährendem
Parteienkampf beunruhigte Atmosphäre
ihm nicht zusagte, überhaupt fortzukommen.
Dass Lionardo aber Florenz nicht mehr
lieben konnte, dass er die Stadt, die als
das Paradies aller feinen Geister, aller
anerkennungsbedürftigen Künstler galt, die
Heimat der verständigen Kritik und des
attischen Witzes, die geistige Metropole
der Renaissance, verließ und auch ferner-
hin lieber mied als aufsuchte, beweist
allein schon, wie weit sich sein Inneres
von dem Jugend-Ideal, ein vollkommener
Mensch seiner Zeit zu werden, entfernt
hatte. Als er den Frieden im Wirken und
Handeln auf praktischen und gemein-
nützigen Gebieten finden wollte, war das
wohl ein letzter, verzweifelter Versuch,
innerhalb der Anforderungen der Zeit sein
seelisches Gleichgewicht zu finden. Den
thätigen und Großes schaffenden Mann,
der sich mit aller Kraft, und mit schöner
Geberde dazu, gegen die feindlichen Mächte
der Natur und gegen feindliche Menschen
stemmt, der im Sieg und im rauschenden
äußeren Erfolg seine eigene Macht genießt,
konnte das Bewußtsein der Renaissance
noch zugeben; wenn Lionardo diese Art
Leben wählte, konnte er sich gegenüber
der Moral seiner Zeit ein gutes Gewissen
bewahren; dann war er nicht aus ihr
herausgetreten, sündigte nicht gegen ihren
heiligen Geist. Und um dieses gute Gewissen,
wie gegen dieses gute Gewissen geht aller
innere Kampf in einem großen Menschen.
Er vertheidigt es gegen sich selbst mit Nägeln
und Zähnen, er gibt nur unterm höchsten

Zwange, langsam, in stetem Widerstreben,
eine Position nach der anderen auf.

Das, was Lionardo von der Mailänder
Berufung erhofft hatte, war seine letzte
Position in diesem Kampfe. Er verlor
auch diese. Er mag sich in die Rolle
des Helden in Theseus’ Weise, des Völker-
beglückers und Retters, mit aller Hingebung
eingelebt haben. Einen Mann der That
verherrlichte denn auch das größte Werk
seiner ersten Mailänder Zeit: das Reiter-
denkmal für Francesco Sforza, den Con-
dottiere und Thronräuber, den rastlos um
Macht und Ruhm Bemühten; ihm galt
das letzte, auf das Kolossale und Impo-
nierende gerichtete Kunststreben Lionardos.
Vielleicht wollte Lionardo mit jener fast
acht Meter hohen Reiterstatue, an der er
nahezu sechzehn Jahre gearbeitet hat (und
deren Modell dann doch nicht zur Aus-
führung gelangte, vielmehr unter muth-
willigen Beschädigungen oder wegen ver-
ständnisloser Unachtsamkeit bald wieder
zugrunde gieng), seinen damaligen Ge-
müthszustand künstlerisch vor sich selbst
motivieren? Aber er war zu stark,
um in diesem Kampfe nicht zu unter-
liegen. Übermächtig trieb es ihn aus dem
Kreise, in dem sich das Denken und
Wollen seiner Zeitgenossen umherbewegte,
heraus; er konnte in sich das Ideal der
Renaissance nicht mehr lebendig erhalten.
Mehr noch; es lag am Tode, aber, ein
halber Leichnam, bedrückte es ihn, nahm
seiner Seele die Schwungkraft, lähmte
seinen Arm; wollte er wieder je frei und
froh werden, so musste er, der fremde
Künstler, dieses Ideal in sich tödten.

Und er erschlug es — und befreite
sich von ihm auf immer.*

* Wann sich in Lionardo diese große Wandlung vollzogen haben kann, lässt sich mit
einiger Genauigkeit nicht einmal vermuthen. Auch ist die Zahl seiner Werke, die uns erhalten
sind, zu gering, als dass an ihnen eine fortschreitende Änderung seiner Art studiert werden
könnte wie bei anderen Künstlern, die jeder Wendung ihres Entwicklungsganges ein Kunst-
werk als Denk- und Merkstein gesetzt haben. Und es wäre gewiss grundfalsch, sich überhaupt
mit der Vorstellung einer plötzlichen, gleichsam theatermäßigen Veränderung, eines effectvollen,
vom üblichen Donnern und Blitzen begleiteten Scenenwechsels abzugeben. Alle großen Er-
eignisse, und sonderlich die seelischen, vollziehen sich leise und allmählich, und selbst wo sie
mit Krampf-Erscheinungen und Krisen auftreten, markieren sie nur den Augenblick, wo etwas
längst Vorhandenes in die äußere Welt hinaustritt. Gewiss liegt schon in der »Jungfrau in
der Felsengrotte« aus der ersten Florentiner Zeit ein gutes Stück des späteren Lionardo;
gewiss gilt in gewissem Sinne auch von ihm das Hebbel’sche Wort: »Was Einer werden kann,
das ist er schon«. Aber die endgiltige Entfremdung Lionardos von den Idealen seiner Zeit
scheint erst gegen das Ende seines ersten Mailänder oder zu Beginn seines zweiten Florentiner
Aufenthaltes vollzogen zu sein, also um die Wende des 15. Jahrhunderts, und als Lionardo
selbst dem fünfzigsten Jahre seines Lebens schon zuschritt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 138, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-06_n0138.html)