Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 141

Über die Abschaffung des Pöbels Die Entstehung des socialen Problems (Heidenstam, Verner vonSchmitt, Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 141

Text

SCHMITT: DIE ENTSTEHUNG DES SOCIALEN PROBLEMS.

die Ansteckung bei ihr einen stets em-
pfänglichen Boden.

Ohne Zweifel begreifen die meisten
auch bereits, wie nothwendig es ist, ein
Gesetz zu erhalten, das durch Er-
theilung der gleichen bürgerlichen Rechte
an alle Söhne desselben Volkes den
Pöbel verbietet und abschafft. Wir pflegen
ja sonst unsere Neigung für das Nützliche
bis zur Einseitigkeit zu betonen; eben
eine solche Reform aber ist vor allem
nützlich und friedenstiftend und mit nur
wenigen und vorübergehenden, wenn nicht
gar eingebildeten, Ungelegenheiten ver-
bunden. Warum etwas aufschieben, das
dennoch nicht zu vermeiden ist! Das
Land, das wir von unseren Vätern ererbt
haben, ist nicht um Geld erkauft worden,
und die politische Mündigkeitserklärung
kann daselbst nur zu einer Frage des
Alters, nicht des Geldes gemacht werden.
Es ist unmöglich, dass nicht jeder denkende
Mann in Schweden — sowie in den
anderen Culturländern — zumindest im

stillen Innern den Wunsch hegt, lieber
seinen politischen Privilegien zu entsagen,
als sie nicht mit jedem seiner Landsleute
theilen zu dürfen. Ein Reich, dessen Ein-
wohner nicht so gleichgestellt sind, dass
sie sich gemeinschaftlich der Wahlurne
nähern dürfen, befindet sich nicht im
Besitze eines Volkes, sondern mehrerer,
einander misstrauender Feindeslager. Übel
wäre es um eine Vaterlandsliebe bestellt,
die es nicht als ihr Ziel betrachtete, uns
zur Einigkeit und zu bewusster Kraft zu
sammeln; aber höher als die Vaterlands-
liebe steht die Gerechtigkeit, deren Forde-
rungen noch keiner zu früh erfüllt hat.

Es kommt einstmals ein Tag, da es
in jedem Heim, auch in dem niedrigsten,
eine Bibliothek von etwa fünfzig Büchern
geben wird. An jenem Tage können
unsere Historiker lächelnd von den alten
Pöbelzeiten berichten, da politische Fragen
mit Steinwürfen und klirrenden Fenster-
scheiben verhandelt wurden.

DIE ENTSTEHUNG DES SOCIALEN PROBLEMS.
Von EUGEN HEINRICH SCHMITT (Budapest).

Diesen Titel führt eine höchst be-
deutsame Schrift von Arnold Fischer,*
die das Wesen der socialen Frage in
großer Perspective, in der Perspective des
Welterkennens, zu erfassen sucht und die
Lösung des Problems nicht im engeren
Kreise der Sociologie, sondern in der
Enthüllung des Geheimnisses nicht bloß
alles culturellen, sondern alles organischen
Lebens sucht. Das Geheimnis der cultur-
ellen Entwicklung in einem umfassenden
Gesetze zu erklären und zu beleuchten, in
allen den Phasen und Epochen, die sich
in reicher Gliederung des geschichtlichen
Werdens entfalten, auf einer Basis, die
zugleich das Wesen der einfach organischen
Entwicklung aller Lebewesen zur Dar-
stellung bringt, — das und nichts Gerin-

geres ist die Aufgabe, die dieses Buch
in großen Zügen zu lösen unternimmt.

Abgesehen von der Frage, ob solche
Lösung dem Autor wirklich gelungen und
in welchem Maße sie gelungen ist, verdient
dieser ebenso kühne, wie geistvoll unter-
nommene Versuch die öffentliche Auf-
merksamkeit im vollen Maße, da er in
seiner Art bahnbrechend ist und der
specialisierenden Detailwissenschaft der
Gegenwart, der »leider nur das geistige
Band fehlt«, zuerst mit umfassendem
Material der Wissenschaft die Forderung
eines einheitlichen, zusammenfassenden Er-
kennens zur Geltung bringt.

Der Grundgedanke, von dem der Ver-
fasser ausgeht, ist der des Kampfes ums
Dasein und der Accomodation an die

* Rostock i. M. Verlag von L. J. E. Volckmann. 781 S. — Mk. 12.50.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 141, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-06_n0141.html)