Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 143

Die Entstehung des socialen Problems (Schmitt, Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 143

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SCHMITT: DIE ENTSTEHUNG DBS SOCIALEN PROBLEMS.

sation zu sein vermag. Diese Function
übernimmt ein neues Princip, eine andere
Seelenkraft: die Vernunft, deren Träger
nicht mehr die Kirche, sondern der Staat
ist. In der Gestalt der freien Vernunft
zersprengt sie die Fesseln der kirchlich-
feudalen Weltanschauung und Gesellschafts-
gestaltung. An die Stelle des führenden
Adels tritt die Bürgerschaft, die mit Hilfe
der absoluten Monarchie die Feudal-Ver-
fassung untergräbt, um schließlich im
Verfassungsstaate selbst die Führung in
die Hand zu nehmen. Aber die von aller
religiös-feudalistischen Beeinflussung freie,
die reine Vernunft vermag nur die
Arbeiterclasse zu repräsentieren, die vor-
erst die staatliche Versicherung der Exi-
stenz der Individuen anstrebt in der Socia-
lisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse.
Als letzte Etappe der Zukunft und gegen-
wärtig noch als ganz unreife Gestalt zeigt
sich das Princip des Anarchismus; denn
schließlich werden auch die Empfindungs-
bande, welche noch in der staatlichen
Einheit die Einzelnen verknüpfen, vollends
gelockert und seine äußerliche Zwangs-
organisation als Druck empfunden von
den Individuen, die zur Vollendung ihres
Individualismus heranreifen, der schließlich
nur völlig internationale Bande freier Ver-
gesellschaftung verträgt. Die umfassendste
Verbindung erscheint so als die lockerste
und empfindungsärmste, die nur von
Motiven des kalten, wirtschaftlichen Inter-
esses der Individuen geregelt wird. Die
Vergangenheit kannte ein sociales Pro-
blem in seiner rein wirtschaftlichen Form
deshalb nicht, weil die in innigen Gefühls-
banden verschmolzenen Corporationen jener
Zeiten in genügender Weise die Existenz
der Einzelnen garantierten und diese da-
her nicht nöthig hatten, ihr individuelles
wirtschaftliches Interesse in der Gestalt
der socialen Frage derart in den Vorder-
grund zu stellen, wie dies die führende
Classe der heranreifenden Epoche der
reinen Vernunft, die Arbeiterschaft, thun
muss.

Dies ganz in Kürze die Zusammen-
fassung der Ideen dieses an interessanten
Detaillierungen so reichen Werkes. Dem

in breiten Schichten der Arbeiterwelt
herrschenden Marxismus gegenüber wird
mit Recht betont, dass derselbe schon
deswegen eine ungenügende Theorie sei,
weil er die physischen und intellectuellen
Grundlagen wirtschaftlicher Processe nicht
erforsche und die Frage einer einheitlichen
Lösung des organologischen und socio-
logischen Problems gar nicht aufzuwerfen
fähig war, während der Verfasser die
ganze Eigenthümlichkeit der marxistischen
Denkweise ebenso in der Stufenfolge der
Entwicklung menschlicher Seelenkräfte
ableitet, die die letzte Grundbedingung
der Erhaltung der Art ebenso wie des
Individuums sind und in ihrer bestimmten
Ausgestaltung erst das moderne sociale
Problem als naturnothwendige Entwick-
lungsstufe menschlicher Seelenkräfte her-
vorrufen.

Angesichts der hohen Bedeutung der
Schrift wollen wir hier die kritische Be-
trachtung des Werkes nur auf einzelne
Andeutungen beschränken. Dem Verfasser
ist es vor allem nicht gelungen, die Klippe,
an der die mechanistische Hypothese der
Darwinisten scheitert, wirklich zu um-
segeln. Er versucht ebenso wie diese
Metaphysiker mit einem negativen
Factor, mit einem Mangel, einer Noth,
zu bauen; es fehlt ihm wie diesen das
positive Formprincip, aus welchem
der Reichthum der Organisation und des
Geistes hervorquillt. Abschwächung von
Kräften, Schwinden von Fähigkeit erklärt
in keiner Weise das Hervorgehen neuer,
höherer, reicherer Formen des Lebens und
Intellects. Die neue, höhere Naturkraft, die
immer dort hervorbricht, wo die Noth am
größten ist, ist ebensowenig ein positives
wissenschaftliches Erklärungsprincip, wie
der im gleichen Falle eingreifende liebe
Gott. Beides bleibt im letzten Grunde
gleich mystisch und wunderbar. Das
System, welches eine positive wissen-
schaftliche, einheitliche Erklärung der Er-
scheinungen der Organisation sowie des
Geistes und seiner Culturgestalten auch
nur versucht, muss erst noch geschaffen
werden.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 6, S. 143, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-06_n0143.html)