Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 157

Unser Leben und Tod II. (Buttenstedt, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 157

Text

BUTTENSTEDT: DIE ÜBERTRAGUNG DER LEBENSKRAFT.

Patienten bewirke. Wie dem auch sein
mag, sicher ist, dass dem Patienten auf
diesem Wege noch eine Kraft zugeführt
werden kann, die die Widerstands-Fähig-
keit seines Zellenmaterials erhöht, und diese
Stärkung der Zellen soll nach Metsch-
nikows Forschungen gleichbedeutend
sein mit der Aufhebung der Alters-
schwäche; denn seinen Ergebnissen nach
ist das Leben nichts anderes, als ein
mechanischer Kampf der Organzellen gegen
die weißen Blutkörperchen, welch letztere
die ersteren zu verzehren suchen.

Professor Dr. med. Metschnikow
vom Institut Pasteur in Paris schreibt:

»Gewöhnlich führt jede physiologische
Thätigkeit, jede Arbeit zu einer Sattheit, einer
Ermüdung. Nach einem Arbeitstage sehnen wir
uns nach Ruhe. Danach würde es also eine
ganz ebenso natürliche Erscheinung sein, dass
man nach Vollendung des reifen Alters, wie
nach dem Kampf mit einem ganzen Leben,
endlich instinctiv nach der Ruhe des Alters
verlangt. Demgegenüber steht aber die Furcht
vor dem Tode
und dem Alter, die ebenso
die ganze Menschheit beherrscht und allen
Gesetzen der Physiologie widerstreitet.

Man kann sogar die Frage auf-
werfen, ob der Tod denn wirklich ein
so natürliches Ding ist
.

Es gibt in der Natur einzellige Wesen,
die das Privilegium der Unsterblichkeit
besitzen. Auch bei vielzelligen Wesen ist
Ähnliches zu beobachten. Wenn es nun aber
eine gewisse Unsterblichkeit gibt, was ist dann
die Ursache des Alterns? Das Leben ist nichts
anderes, als ein großartiger Kampf zwischen
den Zellen der verschiedenen Organe einerseits
und den weißen Blutkörperchen, die sie zu
verschlingen streben, andererseits. Es thut sich
nun die Frage auf, ob es Mittel gibt, den
wertvolleren unter den beiden Gegnern
(die Zelle) zu stärken oder seinen gefähr-
lichen Feind (das weiße Blutkörperchen) zu
schwächen.« *

Zu den Metschnikow’schen Resultaten
bemerke ich erläuternd, dass sie in zwei
Punkten eine Bestätigung meiner seit
1894 veröffentlichten Ergebnisse sind, und
zwar führe auch ich als Beweis für
unsere irdische Unsterblichkeit den In-
stinct der Todesfurcht an, und
zweitens habe ich dieselbe Bedingung
herausgefunden wie Metschnikow: dass
wir den »wertvolleren unter den
beiden Gegnern
« stärken müssen, wenn
wir ewig leben wollen, nämlich: das
Zellenmaterial unserer Muskulatur, also:
das mechanische Princip unseres
Körpers
.** Ich halte eine natürliche
Stärkung
des Zellenmaterials für
leichter zum Ziele führend als eine künst-
liche Schwächung der weißen Blutkörper-
chen durch Einspritzung von Serum, wie
das Metschnikow beabsichtigt, denn »nichts
führt zum Guten, was nicht natürlich ist!«
Erstens also durch Muskelarbeit und Natur-
kraft und zweitens durch Übertragung von
Lebens- oder Nervenkraft von Gesunden.
Da aber die Molecüle eines Gesunden
ganz anders schwingen, als die eines
Kranken und Nervenschwachen, so ist es
keineswegs gleichgiltig, in welcher Um-
gebung wir leben und welche Schwin-
gungen auf uns einwirken. Wer fort-
gesetzt mit Hypochondern zu thun hat,
wird zuletzt selbst hypochondrisch — so-
viel Stoffe hat er von jenen aufgesogen!
Wer sich viel unter gesunden, fröhlichen
Menschen bewegt, kann sich der Wirkung
jener lebensfrohen Schwingungen auf die
Dauer nicht entziehen, die von jenen aus-
strömen, und er wird dadurch auf eine
günstige Weise angesteckt werden. Ebenso

* Professor Dr. med. Duclaux hat sich nach einem Artikel in »La Fronde« vom
5. Jänner 1900: „Sérum de Jouvence“ darüber wie folgt geäußert:

»Welche Hoffnung lässt das Herz schwellen bei einer solchen Perspective. Theoretisch
ist das ewige Leben möglich, praktisch nicht unausführbar! Verdient nicht eine Methode,
welche die Periode des Greisenalters verringern und die Summe der Lebenskräfte vermehren
würde, in hohem Grade die Aufmerksamkeit der Sociologen? Wir sind 25 Jahre jung, 25 Jahre
im kräftigen Alter und riskieren, 50 Jahre im Greisenalter stehen zu müssen; das ist sehr
hart. Aber wer hat Schuld? Die Natur? Nein! Wir? Ganz ohne Zweifel! Unter den Ent-
deckungen, welche sich bei der Morgenröthe des neuen Jahrhunderts zeigen, wird diejenige,
welche Metschnikow soeben in der Theorie vollendet hat und welche er praktisch wahr-
scheinlich verwirklichen wird, nicht die kleinste sein!«

Auch diese Ansicht Duclaux’ habe ich völlig in meinen Schriften getheilt, dass nämlich
unser früher Tod einzig unsere Schuld ist, denn wenn das »mechanische Princip des
Organismus« durch unser Zuthun seine Schuldigkeit thut, dann sind ja die Bedingungen zum
Fortleben gegeben! — Deshalb habe ich behauptet: es sei rein unmöglich, je zu sterben,
wenn jenes Princip bei normaler Kraft erhalten würde durch Muskelarbeit! D. V.

** Vgl. »Wiener Rundschau«, IV., Nr. 5: »Das mechanische Princip des Organismus«
von Carl Buttenstedt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 157, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0157.html)