Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 158

Unser Leben und Tod II. Das Princip der Geschlechter (Buttenstedt, CarlHartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 158

Text

HARTMANN: DAS PRINCIP DER GESCHLECHTER.

ist es nicht gleichgiltig, ob ein altes,
lebensmüdes Mütterchen als Wartefrau
unsere Kleinen an der Hand führt den
Tag über, oder ein junges, frisches Mäd-
chen. Es ist ferner nicht gleichgiltig,
wer uns unsere Mahlzeiten bereitet und
unsere Wäsche wäscht, wer im Eisenbahn-
wagen neben uns oder vor uns sitzt und
seinen Hauch uns zusendet.

Endlich können auch von Thieren
günstige Kraftübertragungen auf uns be-
wirkt werden. Der Ungar Raven erreichte
ein Alter von 172 Jahren und war Zeit
seines Lebens Rosshirt; hier hat der stete
Umgang mit halbwilden, gesunden Pferden
sicher auch zur Stärkung der Lebenskraft
jenes Hirten beigetragen. Die Frau eines
Gutsbesitzers in Brandenburg berichtet,
sie hätte stets, so oft sie von Zahnweh
geplagt wurde, ihre Wange an ein Pferd
ihres Stalles gelegt und alsbald Linderung
verspürt; gieng sie zu ihrem Lieblings-
pferd, so verschwand der Schmerz am
schnellsten; auch hier scheint eine Art
Seelen-Sympathie mitzusprechen oder die
Selbst-Suggestion der Frau.

Professor Dr. Schwann sagt, er könne
überhaupt nicht begreifen, dass der Mensch
sterben müsse. Professor Dr. med. Curtis
am bacteriologischen Institut zu Chicago

lehrt seine Hörer, dass jeder Mensch
tausend Jahre alt werden könne, wenn er
sein Leben nur den Regeln der Hygiene
und Wissenschaft anschmiegen wolle. Der
berühmte Physiologe Johannes Müller
hat darauf hingewiesen, dass die lebende
organische Substanz in sich selbst absolut
keinen naturwissenschaftlichen Grund zum
Sterben hat, dass ein solcher lediglich in
den einzelnen Individuen gesucht werden
muss. Er sagt:

»Der beständige Wechsel der Atome und
Molecüle ist der Angelpunkt des Lebens, ist
das Leben selbst. Wie nun die organische
Materie an sich als chemische Verbindung oder
tellurischer Erdbestandtheil unvergänglich
ist, so ist auch der Wechsel andauernd
und das Leben unsterblich. Der Tod ist
nichts anderes, als das Aufhören dieses Molecül-
wechsels

Hierzu bemerke ich, dass dieser wichtige
Molecülwechsel eben aufhört, wenn das
»mechanische Princip des Organismus«
in seinem zweiten mechanischen, selbst-
thätig arbeitenden Processe an Ent-
spannungs-Energie nachlässt, d. h. wenn
der Organismus nicht mehr durch un-
bewusst thätige Entspannung des Muskel-
materials die Auswurfstoffe aus dem Körper
herauspressen kann. Diese Kraft lässt
eben durch unsere körperliche Unthätigkeit
im Alter nach, mithin durch unsere Schuld.

DAS PRINCIP DER GESCHLECHTER.
Von FRANZ HARTMANN (Florenz).

Wenn wir das Weltall als Ganzes
betrachten, so sehen wir in der ewigen
Einheit des Wesens aller Dinge zwei
Kräfte offenbar, so wie es Schopen-
hauer in seinem Werke beschrieben hat.
Die eine Kraft ist das Leben der Dinge,
der Grund, aus dem sie entstehen, der
unbewusste Wille zum Dasein, der Stoff
oder das Wesen, aus dem die Dinge
bestehen. Die andere Kraft ist der Ge-

danke oder die Idee, welche den Stoff
bildet und ihm seine Eigenschaften ver-
leiht; denn alles stellt einen Gedanken
dar und ist an sich selbst der Ausdruck
einer Idee; jedes natürliche Ding stellt in
seiner Erscheinung dasjenige vor, was es
wesentlich ist; ein Ding, dem keine Idee
zugrunde läge, hätte auch keinen Sinn.

Der Gedanke ist das männliche Princip,
der Wille das weibliche. Der Gedanke ist

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 7, S. 158, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-07_n0158.html)