Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 176

O grave where is thy Victory Schatten (Toorop, JanPoe, Edgar Allan)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 176

Text

SCHATTEN.
Von EDGAR ALLAN POE.

»Wahrlich! Ob ich auch wandle durch das
Thal des Schattens.« Psalm Davids.

Ihr, die ihr leset, seid noch unter den
Lebenden; aber ich, der schreibt, ich
werde schon lange meinen Weg ins
Reich der Schatten gegangen sein. Denn
wahrlich, seltsame Dinge werden geschehen
und Geheimes wird offenbar werden und
viele Jahrhunderte werden vergehen, ehe
einst Menschen diese Aufzeichnungen lesen.
Und wenn sie sie gelesen, werden einige
nicht glauben, werden einige zweifeln,
und nur wenige werden über die Schrift-
züge, die hier mit eisernem Griffel ein-
gegraben sind, ernsthaft nachsinnen.

Das Jahr war ein Jahr des Schreckens
gewesen, ein Jahr schaudervollen, unaus-
sprechlichen Entsetzens. Denn viele Wun-
der und Zeichen waren geschehen, und
über alles Land und alles Meer hielt die
Pest ihre schwarzen Schwingen gebreitet.
Und Denen, welche die Gestirne deuteten,
war es nicht unbekannt, dass die Himmel
Unheil verkündeten; und ich, der Grieche
Oinos, erkannte mit manchen Anderen,
dass das siebenhundertvierundneunzigste
Jahr gekommen war, in dem sich beim
Aufgange des Aries der Planet Jupiter
mit dem rothen Ring des grausen
Saturns vereint. Das seltsame Wesen,
das Luft und Himmelskörper durchdrang,
verrieth sich nicht nur im physischen
Leben des Erdballs, sondern — ich müsste
mich denn sehr irren — auch in den
Seelen, Phantasien und Grübeleien der
Menschen.

Bei einigen Flaschen rothen Chiosweines
saßen wir des Nachts in einem hohen
Saale in einer trüben Stadt, die Ptolemaïs
heißt, zu Sieben beisammen. Und zu
unserem Zimmer gab es keinen anderen
Eingang, als eine hohe, kupferne Thür,
und die Thür war von dem Künstler
Kosinnos gefertigt, von seltener Arbeit
und von innen verschlossen. Schwarze

Draperien umhiengen den düsteren Raum
und verbargen unseren Augen den Mond,
die gelben Sterne und die menschenleeren
Straßen — doch die Ahnung und die
Erinnerung an das Unglück ließen sich
nicht ausschließen. Es waren Dinge um
uns, von denen ich keine deutliche Schil-
derung geben kann — körperliche und
geistige Dinge — als drücke eine Schwere
in der Luft — als drohe uns Erstickung
— Beängstigung sank dumpf herab —
und vor allem quälte uns jener schreck-
liche Daseinszustand, in dem die Sinne
übermäßig lebendig und wach sind,
während die Kräfte des Gedankens
schlummern. Eine todte Schwere hieng
über uns. Sie lag auf unseren Gliedern
— auf den Gegenständen im Zimmer —
auf den Bechern, aus denen wir tranken.
— Es schien, als drücke sie alle Dinge
nach unten, alles, nur nicht die Flammen
der sieben eisernen Lampen, die unser
Trinkgelage erleuchteten. Sie stiegen in
langen, dünnen Lichtstreifen auf und
brannten alle bleich und unbeweglich;
und in dem Spiegel, den ihr Licht auf
dem runden Ebenholztische bildete, um
den wir saßen, erblickte jeder von uns,
die wir da versammelt waren, seines
eigenen Antlitzes Blässe und das unruhige
Flackern in den niedergeschlagenen Augen
der Freunde. Doch lachten wir und
waren lustig auf unsere Art — hysterisch
lustig — und sangen die Lieder Anakreons
— wahnsinnige Lieder; und tranken un-
aufhörlich, obgleich uns der purpurne
Wein an Blut gemahnte. Denn es war
noch ein Gast in unserem Gemache, der
junge Zoilos. Todt und ausgestreckt lag
er da, leichentuchumhüllt — der Dämon
des Ortes. Ach, er hatte keinen Theil
an unserer Heiterkeit, oder nur soviel,
als sein von Qual entstelltes Antlitz und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 176, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0176.html)